SRF DOK: Frau Gassmann, in der Schweiz leben rund 15'000 Pflegekinder. Weshalb wird ein Kind zum Pflegekind?
Yvonne Gassmann: Es gibt unterschiedliche Gründe. Keinesfalls wurde jedes Pflegekind vernachlässigt, misshandelt oder zeigt Verhaltensauffälligkeiten. Auch ein Autounfall der Eltern kann Ursache sein, dass ein Kind zum Pflegekind wird. Häufig springen Verwandte oder gute Bekannte des Kindes und seiner Eltern ein und werden zu Pflegeeltern. Tendenziell kommen Pflegekinder aus eher ärmeren Verhältnissen. Finanziell besser gestellte Eltern können sich Hilfe oft selbst organisieren und finanzieren – sei dies in Form eines Kita-Platzes, einer Tagesmutter, eines Internats oder therapeutischer Hilfe. Es trifft zudem häufiger Alleinerziehende, die viel arbeiten müssen und vielleicht ungünstige Arbeitsbedingungen haben.
Wie erkennt man, dass ein Kind besonderen Schutz benötigt?
Es kann sein, dass Kinder in ihrer Umgebung auffallen, weil sie vielleicht verwahrlost aussehen, sich vielleicht sehr aggressiv verhalten, oder sehr zurückgezogen sind, sehr hungrig, sehr müde oder anders auffällig wirken.
Die Problemlage und mögliche Vernachlässigung eines Kindes werden leider oft erst im Kindergarten ersichtlich, wenn das Kind nicht mehr nur in den eigenen vier Wänden betreut wird. Leider deshalb, weil schutzbedürftige Kinder vorher, als ganz kleine Kinder, noch viel mehr auf Hilfe angewiesen wären. Dort zeigt sich Handlungsbedarf oft nur, wenn jemand Verdacht schöpft und eine Meldung macht. Nachbarn sind hier unsicher oder erhalten zu wenig Einblick in die Familie des möglicherweise schutzbedürftigen Kindes.
Wie gehen Pflegekinder damit um, dass sich vielleicht auch ihr gesellschaftlicher Status ändert?
Einige Kinder sagen zum Beispiel, sie haben zwei Mal «Eltern», andere bezeichnen nur die Pflegeeltern als Eltern. Oft ist es sinnvoll, mit den Kindern eine so genannte «Cover Story» zu erarbeiten, auf die das Kind zurückgreifen kann. Es will ja vielleicht nicht immer die ganze Geschichte erzählen, wenn seine Mutter beispielsweise psychisch krank ist.
Wie wird über das Schicksal eines Pflegekindes entschieden?
Hier ist unter anderem die Perspektivenklärung von zentraler Bedeutung: Soll das Kind eines Tages wieder zurück? Ist es eine langfristige Platzierung? Im Film wurde Rainer von der Pflegefamilie seit seiner Geburt aufgezogen wie das eigene Kind. Sie ging vermutlich davon aus, dass sie Rainers Eltern ersetzen. Hätte sie von Anfang an gewusst, dass Rainer einen Vater hat, der sich um das Kind sorgen möchte, wären weniger Enttäuschungen passiert. Die Behörde wäre verpflichtet gewesen, bei der Geburt nach dem Vater zu suchen – vielleicht hat sie das auch, aber es ist ihr nicht früher gelungen, ihn ausfindig zu machen.
Der knapp dreijährige Rainer kommt im Film nicht zu Wort. Werden Kinder genug in die Entscheidungsprozesse einbezogen?
Fragen, wer wann wie mit dem Kind spricht, und wo man die Kinder in Entscheidungen einbeziehen kann, sind im gesamten Platzierungsprozess in der Schweiz noch zu wenig formalisiert und leider manchmal noch etwas zufällig. Die Beteiligung des Kindes ist jedoch im ZGB Art. 314a und in der Pflegekinderverordnung verankert. Entscheidungen über ein Kind, welches man nicht nur auf dem Papier kennt, fallen anders aus. Die Kinder müssen zwar nicht bei jeder Sitzung dabei sein, sollten aber unbedingt angehört werden, auch dann, wenn sie noch nicht im juristischen Sinne urteilsfähig sind.
Welches sind die grössten Konflikte in Pflegeverhältnissen?
Pflegeverhältnisse sind Teil eines komplexen Systems meist vieler Personen und Institutionen, die vieles untereinander aushandeln und zusammenarbeiten müssen. Da können Interessenkonflikte entstehen, aber die möglichen Konflikte werden ja auch bearbeitet. Rund 90% der Pflegeverhältnisse gelingen aber in der Schweiz. Wichtig ist es, unnötige Brüche im Leben eines Kindes zu verhindern. So versucht man zum Beispiel, wenn möglich, Geschwister, in derselben Pflegefamilie unterzubringen. Denn es ist meist das Bedürfnis der Kinder, zusammen zu bleiben und nicht auch noch die Geschwister zu verlieren. Jeden Bruch im Leben des Kindes muss man umfassend legitimieren können.
Rainers Vater erfährt erst ein halbes Jahr nach der Geburt seines Sohnes von dessen Existenz und kämpft um sein Sorgerecht. Wird die leibliche Elternschaft stärker gewichtet?
Diese Tendenz besteht, aber nicht immer. Dass das Kind nach Möglichkeit bei den leiblichen Eltern lebt, hat nicht zuletzt auch finanziell gesehen eine gewisse Bedeutung. Wenn wie im Film der leibliche Vater schon seit mehreren Jahren präsent war und immer wieder gemeinsame Wochenenden stattfanden, ist ein Wechsel denkbar, insbesondere dann, wenn die Kontakte zur Pflegefamilie dennoch weiter bestehen dürfen. Angesichts der verschiedenen Verhältnisse, in denen Rainer aufwachsen würde – bei einer «ganzen» Pflegefamilie oder dem alleinstehenden Vater – muss man sich als Fachkraft immer auch die Frage stellen: Bin ich offen und tolerant dieser Form – einem alleinerziehenden Vater – gegenüber oder sind meine eigenen normativen Erwartungen so, dass ich das eher ausschliesse und weshalb?