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SRF DOK Kathrin Winzenried auf jüdischen Spuren im Aargau

Während des Drehs zum Film «Von Viehhändlern, koscherer Küche und Ehevermittlung» ertappte ich mich beim Gedanken: «Was? Das ist ein Jude? Der sieht doch gar nicht aus wie ein Jude!» Beschämend. Aber wahr. Warum fällt es so schwer, ohne Stereotype vorurteilsfrei durchs Leben zu gehen?

Kathrin Winzenried mit dem Viehhändler Jules Bloch
Legende: Kathrin Winzenried mit dem Viehhändler Jules Bloch SRF

Es war im letzten Sommer, in aller Herrgottsfrüh. Ich war mit dem Zug unterwegs nach Frutigen, an einen Viehmarkt. Auf halbem Weg, in Spiez, hatte ich abgemacht mit dem jüdischen Viehhändler Jules Bloch. Ich wollte ihn auf dem Markt mit der Kamera begleiten. Am Telefon hatte er mir erklärt: «Falls Sie zu spät kommen, bin ich weg. Fernsehen hin oder her.» Das Geschäft in Frutigen warte nicht. Ein geschäftiger Mann, das war sofort klar. Doch wie sah dieser Herr Bloch aus? Ich hatte mit ihm abgemacht, ohne zu fragen, woran ich ihn erkennen würde. Warum eigentlich? Dachte ich, ein jüdischer Viehhändler würde mir sofort auffallen?

Zur Person

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Kathrin Winzenried arbeitet seit 2001 als Redaktorin und Moderatorin für «Kassensturz» und «DOK».

Stereotype im Alltag

Auf dem Bahnsteig in Spiez sah ich ihn nicht. Auch nicht im Regionalzug: Nirgends ein jüdischer Viehhändler. Im letzten Wagen dann die Erleichterung. Das musste er sein! Kräftige Postur, Lachfalten und eine schiefe Dächlikappe auf dem Kopf. «Herr Bloch?» «Ja.» Uff. Alles kommt gut.

Wir redeten über belanglose Dinge und in meinem Kopf drehte es. So hatte ich ihn mir nicht vorgestellt. Aber wie eigentlich hatte ich mir einen jüdischen Viehhändler vorgestellt? Dieser Mann sah aus wie ein Bauer. Jüdisch, christlich, irgendetwas? Keine Ahnung. Er schien mir einfach der Einzige in der Bahn zu sein, der Interesse an einem Viehmarkt haben könnte. Deshalb tippte ich auf ihn. Und mir wurde bewusst, wie sehr ich mich im Alltag von Stereotypen leiten lasse.

Vorbehalte gegenüber Minderheiten

Die Psychologie spricht von «Annahmen über eine bestimmte Gruppe», wenn es um Stereotype geht. Sie würden uns helfen, den komplexen Alltag zu vereinfachen. Dank der Stereotype können wir Unbekanntes schneller einschätzen. Irgendein Urinstinkt, der uns Gefahren rascher erkennen lässt. Mag sein. Das Verheerende ist bloss, wenn diese Vorstellungen so fix sind, dass wir den Menschen, das Individuum, nicht mehr erkennen. Dann landen wir beim Vorurteil. Besonders Minderheiten sind gefährdet, unter negativen Stereotypen abgespeichert zu werden. Das lehrt uns die Gegenwart und die Geschichte. Dem ausgesetzt ist seit Jahrhunderten die jüdische Bevölkerung.

Auch in der Schweiz. Der Weinbauer Lukas Baumgartner aus dem aargauischen Surbtal erzählte uns zum Beispiel während der Dreharbeiten übers Schweizer Landjudentum: «Mir haben Leute davon abgeraten, koscheren Wein anzubauen. Sich auf so was «Jüdisches» einzulassen, sei schlecht fürs Geschäft.» Ihn hat’s zum Glück nicht beeindruckt. Er tüftelt weiter daran herum, eines Tages koscheren Wein verkaufen zu können. Zur Erinnerung der jüdischen Vergangenheit im Surbtal, und weil ihn als Geschäftsmann Neues reizt.

Vorurteile über den Haufen werfen

Um auf den Ausgangspunkt dieser Geschichte zurück zu kommen: Den jüdischen Viehhändler Jules Bloch sollte ich nach unserem Ausflug nach Frutigen noch richtig kennen lernen. Und ich weiss nicht, ob ein jüdisches Vorurteil auf ihn zutrifft. Es ist mir auch völlig egal. Er wird mir als grossartiger und liebenswürdiger Erzähler in Erinnerung bleiben. Und was ich mit Sicherheit weiss: Auch ich kann es nicht ausstehen, wenn mir jemand sagt: «Du siehst gar nicht aus wie eine Bauerntochter!» Denn wie bitte sieht eine typische Bauerntochter aus? Und wie ist sie?

Spielszenen angelehnt an den Roman «Melnitz» von Charles Lewinsky.

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