Es war an einem Abend ziemlich genau vor zwei Jahren, als ich zum ersten Mal die Familie Yilmaz besuchte. Ich fahre durch die Aathalstrasse von Wetzikon Richtung Uster. Ein riesiger Dinosaurier streckt beim Sauriermuseum Aathal seinen langen Hals über die Strasse, auf der rechten Seite tauchen Arbeiterhäuser mit roten Fensterläden auf.
Die Mutter Ayse öffnet mir die Türe ihrer Dachwohnung. Eine junge, selbstbewusste Frau bittet mich in die Stube. Dort ist der kleine Salontisch mit türkischen Spezialitäten gedeckt. Auf dem Sofa sitzt Yasin, eng an seinen Vater Ertan gelehnt, mich misstrauisch betrachtend, daneben seine 20-jährige Schwester Yasemin. Yasin ist der Mittelpunkt der Familie. Er wiegt nur 30 Kilo, seine Arme und Beine sind unvorstellbar dünn, seine Hände verkrüppelt, er ist das krasse Gegenteil des Riesensauriers, den ich vor einigen Minuten erblickte.
Die Liebe, die ihn am Leben hält
Eine befreundete Sozialarbeiterin hatte mir von der türkischen Familie Yilmaz erzählt. Von ihrem unheilbar kranken Sohn Yasin, den sie seit seiner Geburt aufopfernd pflegen. Seine Mutter Ayse Yilmaz sei überzeugt, dass nicht zuletzt die Liebe der Familie Yasin am Leben halte. Ich hatte nie zuvor von dieser Krankheit gehört, ich erfuhr lediglich, wie Yasins Krankheit den schwierigen Weg der Familie bestimmt, wie sie ihnen Sinn und Opfer zugleich ist. Mir war klar: Ich möchte diese Menschen kennenlernen.
Alles dreht sich rund um die Uhr um Yasin
Bei der Familie Yilmaz zu Hause entdecke ich in Yasins Gesicht erste Ansätze von pubertärem Flaum. Ich schaue ihn immer wieder mal verstohlen an. Bald ist das Eis zwischen uns gebrochen, er spricht mit mir, lacht mich mit seinen ungemein lebendigen Augen an, sucht auf seinem iPod mit verblüffender Geschicklichkeit das Bild eines Motorrades, auf dem er jeweils in seinem türkischen Heimatdorf ein paar Runden dreht.
Ich bleibe einige Stunden bei der Familie Yilmaz. Mutter Ayse erzählt mir die verrückte Geschichte ihres Sohnes, erzählt von ihrer Kraft, die sie jeden Tag braucht, um das harte Schicksal überhaupt auszuhalten, erzählt von der Notwendigkeit seiner Betreuung rund um die Uhr. Sie erzählt mir von ihrer Emigration in die Schweiz, damals war sie ein sechsjähriges Mädchen, verloren in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht verstand.
Tochter Yasemin sitzt auf dem Sofa. Sie hat im Moment oft Streit mit der Mutter, hat das Gefühl, neben ihrem pflegebedürftigen Bruder das fünfte Rad am Wagen zu sein. Ich frage Mutter und Tochter, ob sie all das und noch viel mehr auch vor laufender Kamera erzählen würden. Sie bejahen. Die Mutter träumte schon lange davon, die Geschichte ihres Sohnes filmisch festzuhalten.
Er wagt trotz allem zu träumen
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wusste ich: Das ist eine Filmgeschichte. Nicht nur diese seltene Krankheit interessierte mich, sondern vor allem das Innenleben einer Emigrantenfamilie, die auf beeindruckende Art und seit Jahren den scheinbar aussichtslosen Kampf gegen den Tod ihres Sohnes führt. Im Mittelpunkt meiner Filmgeschichte sollte Yasin stehen, der trotz der Behinderung seinen Mut nicht verliert und immer noch Träume hat, die er leben möchte.
Während eines Jahres waren wir immer wieder mit der Kamera bei der mutigen Familie zu Besuch, für einige Tage begleiteten wir sie in ihr Heimatdorf Camköy, wo mir die Zeit stehen geblieben schien. Die Dreharbeiten waren für alle Beteiligten hinter und vor der Kamera ein Gewinn. Mutter Ayse konnte ihren Traum eines Filmes verwirklichen, und ich erhielt Einblicke in eine mir bisher fremde Welt. Nur schon deshalb lohnt es sich, Dokumentarfilmer zu sein.