SRF DOK: Wie kamen Sie auf die Idee, einen Film in Abchasien zu drehen?
Elwira Niewiera: Alles begann 2008 – kurz nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien. Russland war das einzige Land, das die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannt hatte. Ich las einen Artikel darüber und fragte mich immer wieder, wie es sein musste, in einem Staat zu leben, von dem niemand etwas wissen wollte. Ich fing an, die Reportagen über Abchasien von Ryszard Kapuściński zu lesen, und war total gefesselt. Eine seiner Aussagen liess mich einfach nicht mehr los: «Es gibt einen Ort, der das Paradies auf Erden sein könnte, doch gibt es dort mehr Feldminen als Menschen.» Der Satz gab den Antrieb. Ein paar Monate später beschlossen wir nach Abchasien zu reisen.
Piotr Rosołowski : Abchasien ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Kaum einer kennt diese schöne, aber verfluchte Gegend. Zuerst gab es da all die Widersprüche, auf die wir ständig stiessen, dann merkten wir, dass wir die tragische Geschichte hinter all den Absurditäten dieses Orts verstehen wollten. Also beschlossen wir, einen Film zu drehen. Dann kam die Domino-Geschichte.
Wie haben Sie Ihre Protagonisten gefunden?
E.N: Wir trafen Rafael bei der Domino-Weltmeisterschaft, auf unserer ersten Reise nach Abchasien, als gerade mit den Vorbereitungen begonnen wurde. Domino ist dort offizielle WM-Disziplin. So fanden wir uns unverhofft in Rafaels Büro wieder. Er war damals Sportminister. Der Funke ist sofort übergesprungen ...
P.R.: … dafür dauerte es ein ganzes Jahr, bis wir seine neue Frau, Natascha, kennenlernten. Sie hatte den Entschluss gefasst, Russland zu verlassen, um nach Abchasien zu ziehen. Wir waren uns sofort einig, dass die beiden unsere Hauptfiguren sein sollten. Mitzuerleben, wie die zwei beschlossen, trotz aller Probleme und Hindernisse zusammenzuleben, hat uns fasziniert.
E.N.: Ihre schwierige persönliche Lage widerspiegelte die schwierige Lage des Landes. Am Anfang unserer Recherchen waren wir überzeugt, dass Abchasien in den Georgienkonflikt verwickelt war. Doch die Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren eingestellt worden, der Konflikt war gewissermassen eingefroren. Heute prägen die Beziehungen zu Russland den Alltag viel stärker. Für Abchasien bedeutet Unabhängigkeit praktisch Abhängigkeit von Russland. Sowohl wirtschaftlich als auch militärisch. Langfristig gesehen, befürchten die Abchasen, vollständig von Russland annektiert zu werden. Und Natascha ist oft die Zielscheibe, die diese Angst abbekommt.
P.R.: Natascha steht für das Zarenreich, das das Land jahrhundertelang kulturell und politisch beherrschte. Abchasien war immer politischer Spielball im Südkaukasus. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kämpfen die Abchasen um Unabhängigkeit. Im Bürgerkrieg 1992–93 besiegten sie die georgische Armee auf deren Boden. Die Wirtschaftsembargos, die folgten, führten dazu, dass sie jahrelang ohne Strom und ohne fliessendes Wasser auskommen mussten. Sie waren Opfer des geopolitischen Spiels. Dasselbe passiert ja gerade auf der Krim.
Sie sind siebenmal nach Abchasien gereist. Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit Ihren Protagonisten gestaltet?
E.N.: Am schwierigsten war es, die Beziehung des Paars aus einer persönlichen Perspektive darzustellen, ihre echten Gefühle einzufangen. Filmemacher verlangen viel von ihren Hauptdarstellern. Ich aber halte Arbeit und Leben nur dann für sinnvoll, wenn sie wirklich auf gegenseitigem Geben und Nehmen beruhen. Wir haben von Anfang an versucht, unseren Protagonisten etwas zurückzugeben, und sie waren sehr empfänglich dafür. Es kam vor, dass wir einfach nur da waren, eine Woche oder länger, und dann plötzlich entfaltete sich eine Szene, die sich dann als entscheidend für den Film herausstellte. Wir waren so gut integriert, dass die Kamera nicht mehr als Fremdkörper wahrgenommen wurde.
Warum gibt es so wenig Dokumentarfilme über Abchasien?
P.R.: Es gibt mehrere Gründe dafür. Der Balkankrieg hat den Bürgerkrieg in Abchasien in den 1990er-Jahren überschattet. Der Balkan liegt näher an Westeuropa und in diesem Krieg starben sehr viel mehr Menschen. Putin hob das Embargo, mit dem Abchasien seit den frühen 90er-Jahren belegt war, erst 2007 auf. In all diesen Jahren war das Land komplett isoliert, auch von Russland. Und niemand konnte legal einreisen, nicht einmal Ausländer. Deshalb kamen natürlich auch keine Journalisten ins Land.
Wie sind Sie auf den Titel gekommen? Wofür steht «Domino-Effekt»?
E.N.: Bei unseren ersten Reisen sahen wir die Vorbereitungen für die Domino-Weltmeisterschaft, was an sich schon völlig absurd war. Allein schon die Idee! Ein Land steckt so viel Erwartungen und so viel Geld in einen Anlass, der «Menschen aus allen Herren Ländern anziehen soll, die dann gut über uns reden und uns anerkennen werden». Wir fanden, dass der Titel voll ins Schwarze traf. Das Sportereignis ist der Beginn von etwas oder zumindest die Hoffnung auf einen Beginn. Viele Ereignisse, die wir im Film sehen, führen uns zurück zum Zusammenbruch der Sowjetunion und zum daraus folgenden Bürgerkrieg. Auch wenn der Krieg vorbei ist, tobt er immer noch – in menschlicher Zerstörungswut, in Perspektivlosigkeit und Leere.
Elwira Niewiera
Die Polin lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Dokumentarfilmemacherin und Rechercheurin. Ihr Filmdebüt «Bulgarian Stories» wurde an mehreren internationalen Filmfestivals gezeigt und lief in Deutschland in Programmkinos. Elwira war erste Regieassistentin und Rechercheurin bei der Oscar-nominierten Dokumentation «Mauerhase». Seit 2008 ist sie Vorsitzende der deutsch-polnischen Kulturstiftung Nowa Ameryka.
Piotr Rosołowski
Lebt und arbeitet in Berlin und Warschau. Er studierte Kamera an der Filmhochschule in Katowice. Er ist Koregisseur des Dokumentarfilms «The Art of Disappearing» (Premiere am Filmfestival Visions du Réel 2013), Koautor von «Mauerhase» – ein Dokumentarfilm, der in der Kategorie «Bester Kurzfilm» für den Oscar nominiert war. Kameramann für zahlreiche ausgezeichnete Kino- und Kurzfilme, darunter «On the line» , der Oscar-nominierte Kurzfilm, und «Nowhere in Europe», der den Hauptpreis am Sarajevo Human Rights Film Festival gewann.