Im Rückblick wird deutlich, wie der mehrfach vorbestrafte Vergewaltiger Fabrice A. seine Tat aus der Gefängniszelle heraus planen konnte. «Er hat mir sogar auf Google-Maps den Ort gezeigt, wo er Adeline wenig später töten würde», sagt Juan Poy, der nicht nur Lebensgefährte von Adeline M. war, sondern im Rahmen seiner Tätigkeit als Sozialtherapeut ebenfalls mit Fabrice A. zu tun hatte.
Am 12. September 2013 wurde Adeline M. während eines begleiteten Freigangs vom mehrfachen Sexualtäter Fabrice A. ermordet. Mehr als anderthalb Jahre nach der Tat bleiben viele offene Fragen. Weshalb war der als gefährlich eingestufte Vergewaltiger alleine mit der Therapeutin unterwegs? Wieso durfte er sich aussuchen, wer ihn beim Freigang begleitet? Wieso durfte er während des Ausgangs ein Messer kaufen?
Mitarbeiter beklagten sich über die Arbeitsbedingungen
Juan Poy fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Während des Interviews kommen die Bilder wieder hoch. Die Nachricht, dass etwas schief gelaufen sei mit dem Freigang. Das bange Warten. Die Hoffnung. Und schliesslich die Hiobsbotschaft, dass seine Lebenspartnerin und Mutter des gemeinsamen acht Monate alten Babys von Fabrice A. ermordet wurde. Juan Poys spricht mit leiser Stimme. «Es sollte ihr letzter Einsatz sein. Als Mutter wollte sie keine Risiken mehr eingehen». Stille. Der Blick ins Leere.
Das Genfer Zentrum für Sozialtherapie «La Pâquerette» , in dem der mehrfache Vergewaltiger Fabrice A. einsass, war in den achziger Jahren eine Vorzeigeanstalt. Und wurde zum Opfer ihres Erfolges. Getragen von Therapieerfolgen verlieren die Verantwortlichen die kritische Distanz zu ihrer Arbeit.
Mehrere ehemalige Mitarbeiter der Anstalt beklagen Personalmangel, fehlende Gesprächskultur und Druck durch Vorgesetzte. «Wir haben die Dossiers nicht mehr angeschaut», erinnert sich Juan Poy, «es ging am Ende nur noch darum, wie wir die vielen angeordneten Freigänge bewältigen.»
Nur wenig Einigkeit
Der «Fall Adeline» ist weit über die Grenzen Genfs hinaus zum Politikum geworden. Einigkeit herrscht nur in einem Punkt: Die Gefährlichkeit von Fabrice A. wurde falsch eingeschätzt. Juan Poy ist verbittert. «Ich kenne das System», sagt er mit fester Stimme, «ich weiss ganz genau, dass es da Menschen gibt, die nicht wollen, dass die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommt.»
«Rückwirkend gab es genügend Alarmzeichen», wiederholt Juan Poy, den Blick auf ein gemeinsames Foto mit Adeline. «Wir waren so glücklich und jetzt ist es so, als ob der ganze Horror dich Glücksmomente ausgelöscht hätte.» Die Suche nach der Wahrheit ist für Juan Poy zum Lebensinhalt geworden. Er kämpft dafür, dass die Verantwortlichen zu Rechenschaft gezogen werden. Und dafür, dass sich ein solches Verbrechen nicht widerholt.