Um 1840 war die Waldfläche der Schweiz seit der Eiszeit an ihrem Tiefpunkt: Die Wälder waren vor allem in den Berggebieten abgeholzt, weil man für die Industrialisierung im Flachland Holz als Energieträger brauchte. Aus Armut verkaufte die Bergbevölkerung alle ihre Waldbestände. Und mit dem Wald verschwand auch das Wild – gewildert durch hungernde Menschen: Rehe und Gämsen waren auf kleine Bestände geschrumpft, Wildschweine, Hirsche und Steinböcke waren ganz ausgerottet in der Schweiz. Und ihnen folgten gegen 1900 die grossen Fleischfresser Wolf, Luchs und Bär als Schädlinge von Nutztieren.
Jagd dank Fütterung
Das Reh, mit seiner unglaublichen Anpassungsfähigkeit, erholte sich nach der Einführung neuer, nationaler Gesetze zum Schutz von Wald und Wild als erste Art und breitete sich mit zunehmender Waldfläche in der gesamten Schweiz aus. Es drang dabei in den Bergregionen auch in Gebiete vor, wo es vorher bei der Anwesenheit von Beutegreifern keine Chance hatte. Dort war es aber als Jagdwild hoch willkommen, und wo der hohe Schnee im Winter die Rehe auszuhungern drohte, fütterte man das zurückgekehrte, begehrte Jagdwild reichlich an Futterplätzen im Wald. Und nicht nur in den Bergregionen. Mit Hilfe dieser Fütterungen konnten sich Rehe auch in Gebieten als Standwild etablieren, wo sie von Natur aus keine Chance hätten. Diese Fütterungsphilosophie des Menschen dauerte bis in die 1990er Jahre.
Rehe sind keine Bergler
Seit 1972 gibt es wieder Luchse, die natürlichen Fressfeinde der Rehe, in der Schweiz: Der Bundesrat hatte ihre Wiederansiedlung beschlossen. Und seit 1995 Wölfe: Diese waren natürlich aus Italien eingewandert. Bergrehe, die im Winter an ihren Futterstellen durch grosse Schneemassen rundum eingeschlossen waren, wurden zum gefundenen Fressen für Luchse. Der Luchs machte das, was er während Jahrtausenden als natürlicher Feind des Rehs gemacht hatte: Er verwies es in die tieferen Lagen des Laubwaldes, wo ihm die Vegetation und immergrüne Brombeergestrüppe Nahrung und Schutz gegen seine Feinde boten.
Gefütterte Rehe und Luchse sind im Bergwald nicht kompatibel. Wenn nun aber viele Jäger in den Bergregionen beklagen, dass der Luchs alle Rehe fresse, blenden sie aus, dass die Rehe biologisch gar nicht in den Bergwald gehören – ohne Fütterung hätten sie auch ohne Luchs kaum Chancen, dort zu überleben.
Ist der Luchs Schuld?
Die Fütterung von Rehen ist vor dem Hintergrund des Hungers der Bergbevölkerung in früheren Jahrhunderten verständlich: Jagdwild war ein willkommener Zustupf an die Ernährung, und aus diesem Grund wurde Wilderei auch weit herum praktiziert und gesellschaftlich akzeptiert. Heute aber erlaubt ein modernes Verständnis wildbiologischer Zusammenhänge nicht mehr, Rehe und andere Wildtiere zu füttern. Die Natur soll im Winter walten und die Auswahl treffen: Nur starke Tiere überleben. Sie sollen dort leben, wo sie es ohne die Hilfe des Menschen schaffen. Und die zurückgekehrten Fleischfresser Luchs und Wolf unterstützen diesen natürlichen Prozess. Inzwischen waren auch fast alle anderen, ursprünglichen Wildarten zurückgekommen: Rothirsche, Gämsen, Steinböcke, Wildschweine. Und der Wald hat heute gegenüber 1840 um die Hälfte zugenommen.
Das Wallis im 19. Jahrhundert?
Doch viele Menschen in den Berggebieten wollen nicht akzeptieren, dass die natürliche Verbreitung des Wildes eine andere ist, als sie diese zwischen 1940 und 1990 kennengelernt hatten. Schuld daran sind in ihren Augen die sogenannten Grossraubtiere.
Entsprechend häufig kommt es zu Wilderei von Luchsen und Wölfen. In besonderem Ausmass im Wallis, wie eine Chronologie über die letzten 20 Jahre am Beispiel des Luchses zeigt: Im Einklang massgeblicher Exponenten in der Politik, bei Behörden und der Justiz kam es trotz wissenschaftlich belegter Wilderei kaum je zu einer Anklage wegen Tötung von Luchsen und Wölfen. Und die Rehe werden in den Bergtälern privat weiterhin gefüttert, um im Herbst auch im Bergwald viele Rehe jagen zu können. Neben den jagenden Menschen haben dort Luchs und Wolf keinen Platz. Die Welt scheint dort im 19. Jahrhundert stehen geblieben zu sein.