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SRF DOK US-Erziehungslager: «Du kriegst dein Kind repariert zurück»

In den USA werden sogenannt schwierige Kinder häufig in Erziehungslager gesteckt. Viele Kinder erleben dort Grausamkeit, Vernachlässigung und Missbrauch. Ein Dokfilm nimmt die Camps unter die Lupe. Der Zürcher Konfliktberater Jean-Paul Munsch spricht über die fragwürdigen Methoden der US-Camps.

SRF DOK: Sie haben den Film angesehen. Ihr erster Eindruck?

Jean-Paul Munsch : Berührend finde ich die Szene als Bryce vor seinem Zelt sitzt und sichtbar um seine Integrität und Würde kämpft. Man sieht, wie einsam er ist. In diesen Camps wird den Kindern Angst eingejagt – aber Angst ist wie immer ein schlechter Ratgeber.

Die Camps bieten sehr einfache Antworten auf Fragen der Führung und der Beziehung in der Familie. Es ist sicher so, dass diese Erziehungsmethoden eine Reaktion auf ein Symptom sind, aber es wird eben auch nur das Symptom bekämpft und die Konsequenzen sind für viele dieser Kinder traumatisch. Der Machtkampf wird in den Camps bis zum bitteren Ende geführt. Der Film zeigt auch: Ganz offensichtlich gibt es viele hilflose Eltern, die ihren Kindern keine Struktur geben können. Diese Eltern wollen nur eines: Ruhe und Frieden zu Hause.

Zur Person

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Jean-Paul Munsch ist Coach, Schul- und Konfliktberater. Er arbeitete zehn Jahre mit Jugendlichen und war als Schulleiter an verschiedenen Schulen tätig. Nach dem Studium der Philosophie hat er sich zum Coach, Organisationsberater und Familientherapeut ausbilden lassen. Er ist verheiratet und lebt in Zürich.

Ein Bedürfnis, das doch durchaus seine Legitimation hat…

Ja, sicher. Aber das Familienleben beruht nicht nur auf Ruhe und Frieden. Wenn es gelingt, voneinander zu lernen, können sich alle in der Familie unter der Führung der Erwachsenen gemeinsam entwickeln. Das bedeutet: im Kontakt und in der Beziehung zu den Kindern Konflikte austragen und Frustrationen und Wut aushalten.

Ich stelle dieses Bedürfnis nach Ruhe keineswegs in Frage, aber ich stelle in Frage, dass lediglich versucht wird, die Kinder ruhigzustellen – meist durch Bestrafung, aber oft auch durch Verwöhnung.

Wie erklären Sie sich, dass diese Camps in den USA derart florieren, sogar ein Milliardengeschäft sind?

Das hat bestimmt vielfältige Gründe. Zum einen ist das soziokulturelle Milieu mit Gangs in bestimmten Städten in den USA – und auch in einzelnen europäischen Städten – eine ernstzunehmende Realität. Es gibt aber auch viele Kinder, die ohne Führung und Strukturen aufwachsen. Vielleicht liegt es an den fehlenden männlichen Vorbildern? Mir scheint, hier werden hilflosen und überforderten Eltern einfach Produkte angeboten, um Familienprobleme zu lösen, wie in einem Supermarkt.

Ein Mann steht auf einer grünen Wiese vor ein paar Zelten. Er hat die Arme verschränkt.
Legende: Evan «Bullet» James ist Kindertransporteur: Er bringt schwierige Kinder in Institutionen. SRF

Gibt es solche vergleichbaren Institutionen auch in der Schweiz?

Meines Wissens nicht. In der Schweiz versucht man mit (sozial-)pädagogischen Konzepten gemeinsam Lösungen zu finden. Für Erziehungscamps bräuchte es gesamtschweizerische Konzepte der Jugendhilfe und entsprechende Kontrollen.

Der «Therapiemarkt» ist aber auch in der Schweiz ein zunehmend kontroverses Thema.

Ich bin mir nicht sicher, ob diese Art «Therapie» auch in der Schweiz Anklang finden würde. Bei diesen Camps werden die Kinder den Eltern weggenommen. Dieser Eingriff verschafft den Eltern zwar eine Atempause, aber ist natürlich keine Lösung. Man sagt den Eltern: Ich nehme es zu mir, repariere es und du kriegst es geflickt zurück.

Ein Porträt des Jungen Bryce.
Legende: Seine Mutter kann Bryce zu wenig Struktur geben. Deshalb steckt sie ihn ins Camp «Consequence». SRF

Im Film kommt Bryce vor, ein kleiner Junge, der von seiner Mutter in dieses «Camp Consequence» gesteckt wird. Wieder zuhause sagt er, dass er später an die falschen Leute geraten wird. Auf die Nachfrage «wieso?», antwortet er: «Weil ich mich anpassen werde.» Besser kann man es nicht sagen. Das ist die Wirkung und der Lerneffekt dieser Camps: Unterwerfung und Gehorsamkeit – auch den «falschen» Leuten gegenüber. Will man das?

Die Kinder lernen einzig, dass das, was sie denken, fühlen und wahrnehmen, nichts wert ist. Dass sie ausgeliefert sind und als Menschen nichts zählen. Die Kinder lernen so jedenfalls nicht, Verantwortung zu übernehmen – und die Erwachsenen im Übrigen auch nicht. Dazu kommt, dass die nachhaltigen Entwicklungsprozesse Zeit und Geduld brauchen.

«DOK» am Mittwoch

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«Ab in die Hölle» , Mittwoch 12. Oktober 2016, 22:55 Uhr auf SRF 1.

Auf der einen Seite gibt es Drill-Erziehung, auf der anderen Seite steht die sogenannte Kuschelpädagogik. Warum wird es eigentlich oft so schwarz-weiss, wenn es um Erziehung geht?

Ist das nur in der Erziehung so? Das Gehirn des Menschen mag Unterscheidungen, denn sonst würde es nichts erkennen – aber diese müssen nicht aus «entweder...oder» bestehen. Es darf auch «sowohl... als auch» sein.

Es stehen ein paar kleine Zelte auf einer grünen Wiese. Darin schlafen die Jugendliche und Kinder.
Legende: «Camp Consequence» soll die Kinder und Jugendlichen wieder auf die «richtige» Spur führen. SRF

Um ihre Frage zu beantworten, will ich kurz zurückblenden. Bis in die 50er-Jahre verlangte man von den Kindern vor allem still und unsichtbar zu sein. Dann kam der Aufbruch mit den 68ern, die antiautoritäre Erziehung. Diese kommt nun zum Tragen und aktuell ist teilweise ein Backlash in der Pädagogik und in der Erziehung zu beobachten. Die sogenannte Kuschelpädagogik wird vermutlich zu Recht kritisiert, denn auch sie mutet den Kindern zu viel zu: Sie müssen Entscheidungen fällen, zu denen sie nicht in der Lage sind.

Ich finde die Frage der Verantwortung und der Gestaltung der Beziehung durch die Erwachsenen steht im Zentrum. Wie gelingt es uns Erwachsenen sowohl die Führung zu behalten als auch in Beziehung zu bleiben? Wie können Erwachsene auch für ihre eigenen Bedürfnisse sorgen und sich als Menschen zeigen, ohne die Kinder zu ignorieren? Das heisst für mich als Erwachsener: Das Kind in seinen Bedürfnissen zu sehen und zu meiner Führung zu stehen. So bin ich eine Führungsperson für das Kind, die nicht perfekt sein muss, die aber seine eigene Würde und die des Kindes respektiert.

Konsequenz, ein Ausdruck, der im Film häufig vorkommt. Wer kennt das nicht? «Man müsse halt nur konsequent sein.» Wie kann Konsequenz gut gelingen?

Konsequenz ist ja oft ein anderes Wort für Strafe. Im Film heisst Konsequenz ja nur, dass der Mächtigere – also der Erwachsene – das Kind so lange ignoriert und traumatisierenden Situationen ausliefert, bis es seinen Willen aufgibt.

In erster Linie ginge es darum, dass die Erwachsenen sich ernsthaft selber fragen: Was ist mir wichtig? Was will ich, was nicht? Welche Kinder wollen wir haben, wenn sie erwachsen sind? Kann ich zu mir stehen und auch unpopuläre Entscheidungen treffen, ohne das Kind dabei zu beschuldigen, zu beschämen und zu demütigen?

Ein Porträt von Glenn Ellison. Er ist Gründer eines der Erziehungscamps.
Legende: Glenn Ellison ist Gründer von «Camp Consequence». Er nennt die Kinder «Al Kidda». SRF

Sie selbst haben Schulklassen unterrichtet. Was fanden Sie als Lehrer am anspruchsvollsten? Die Politik? Der Lehrplan? Die Arbeitsbelastung? Oder doch die Kinder?

Ich fand den Umgang mit den Kindern tatsächlich eine grosse Herausforderung. Und zwar weil ich mich als junger Lehrer immer von Neuem fragte, wie ich diese Klasse gut führen kann. Ich habe viel gelernt und war bestimmt manchmal ein furchtbarer Lehrer. Aber die Beziehungen zu den Schülern waren gut genug, dass wir zusammen einen Weg finden konnten. Die Jugendlichen halfen mir, meine Rolle als Führungsperson zu übernehmen. Ich bin ihnen noch heute dankbar dafür. Diese Fragen, die ich mir als Lehrer so intensiv gestellt habe, haben übrigens dazu geführt, dass ich mich immer weitergebildet habe, um Antworten auf diese Fragen zu finden. So gestalte ich heute Schulen mit, die die Entwicklung von Menschen besser unterstützen und unsere Kinder stark machen.

Mir fällt auf, Sie reden immer wieder von Beziehung, ist das ein Schlüsselwort?

Auf alle Fälle. Das ist für mich der Schlüssel in der Führung in Schule und Elternhaus. Das zeigt auch die neurowissenschaftliche Forschung: Gute Beziehungen sind für die Entwicklung entscheidend. Empathie, Kreativität und Frustrationstoleranz lernen die Kinder durch Erwachsene, die sich als Person in der Beziehung sichtbar machen, mit den Kindern in Kontakt treten, und trotzdem die Führung behalten.

Bei der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern ist klar: Die Verantwortung für die Qualität und die Führung müssen die Erwachsenen übernehmen. Die Kinder können das nicht. Kinder haben zwar oft viel Weisheit, aber es fehlt ihnen die Erfahrung, wie man eine Beziehung gestaltet und jemanden in eine Kultur einführt.

Buchhinweis

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Jesper Juul: «Leitwölfe sein. Liebevolle Führung in der Familie», Beltz 2016. Jean-Paul Munsch empfiehlt das Buch, «weil Juul in einer persönlichen Sprache aufzeigt, wie Eltern (und auch Lehrpersonen) auf eine nicht verletzende Art und Weise, die Führung übernehmen können».

Die Kinder geben uns klare Signale. Diese sind leider nicht immer so, wie wir das gerne hätten, nicht immer so höflich. Ich glaube, dass wir oft zu viel Wert auf die Form legen und dabei übersehen, was uns das Kind mitteilen will. Ich kann dann immer noch nachschieben, dass ich nicht will, dass das Kind so mit mir spricht.

Wenn Sie heute wieder als Lehrer eine Klasse unterrichten würden, worauf würden Sie besonders Acht geben?

Ich würde besonders auf eine gute Lernatmosphäre achten, in der jedes Kind seinen Platz findet. Ich würde klarer führen und schneller auf Signale reagieren. Gerade bei stilleren Kindern oder jenen, bei denen vermutet werden kann, dass sie gemobbt werden.

Zum Schluss bitte: Ihre Experten-Zauberformel für ein ideales Zusammenleben zwischen Erwachsenen und Kindern.

In Beziehung führen.

Jean Paul Munsch, vielen Dank für dieses Gespräch.

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