SRF DOK: Wie erging es Ihnen nach dem Film?
Laurent Esnault: Es war ein richtiger Befreiungsschlag, eine grosse Erleichterung. Ich hatte die Idee für diesen Film schon 2006, als ich Klage einreichte. Zuerst dachte ich an einen Spielfilm. Doch die Form des Dokumentarfilms schien mir dann passender. Ich realisierte den Film mit einer befreundeten Filmemacherin, Réjane Varrod, um nicht von der Thematik überwältigt zu werden, und um den Blick von aussen zu gewährleisten.
Mit dem Film wollte ich mich von meinen erdrückenden Schuldgefühlen befreien, die ich lange hatte und die mich noch heute belasten. Schuldgefühle, weil ich nicht früher ausgepackt, nicht früher Anzeige erstattet habe. Wenn ich das schon 1984, nach meinem Aufenthalt auf dem Schulschiff getan hätte, wären die Kinder verschont geblieben, die bis 2001 vergewaltigt wurden. Erst dann wurde die «école en bateau» geschlossen. Das wollte ich mit dem Film «wieder gutmachen».
Inwiefern hat der Film Ihnen geholfen, das Erlebte zu verarbeiten?
Der Film war für mich eine Art Psychoanalyse, denn ich verstecke mich darin nicht. Er hat mir geholfen, Dinge auszusprechen, die ich fast 30 Jahre in mir vergraben hatte. Wir führten lange Interviews mit den Betroffenen, und ich war sehr beeindruckt von ihrer Intelligenz und ihrer Fähigkeit, messerscharf zu analysieren, was wir durchgemacht hatten. Dank ihnen habe ich vieles verstanden, was ich nicht hätte formulieren können. Sie helfen, den Mechanismus eines pädophilen Systems zu verstehen. Denn alle Pädophilen agieren mehr oder weniger ähnlich. Eines der Ziele dieses Films war es, diesen Mechanismus offenzulegen. Ich möchte, dass dieses Drama nicht vergessen geht, sondern als Lehre dient, damit so etwas nie wieder passiert. Denn was wir auf dem Schiff durchgemacht haben, machen alle Opfer von Pädophilen durch.
Welche Reaktionen haben Sie auf den Film erhalten?
Ich bekam überwältigend viele, sehr positive Reaktionen. Viele Leute haben sich bei mir für den Film bedankt. Betroffene, die selbst sexuellen Missbrauch erlitten hatten, sagten mir, sie hätten sich in den Aussagen wiedererkannt. Das sei heilsam gewesen.
In diesen Tagen hat mich auch ein Ehemaliger vom Schulschiff kontaktiert. Er war nicht am Prozess, hat aber das Gleiche erlebt wie wir und wollte nach all den vielen Jahren endlich darüber sprechen. Aber auch Leute, die selber nie so etwas erlebt haben, sagten mir, die Aussagen hätten sie sehr berührt. Das alles bestätigt mir, dass unser Film von «allgemeinem Nutzen» ist.
Sie haben selbst Kinder. Gibt es Situationen, in denen sie diese durch andere betreuen lassen?
Ich habe zwei Buben im Alter von zwei und sieben Jahren. Externe Betreuung ist ein grosses Problem für alle Ehemaligen vom Schulschiff, die Eltern geworden sind. Unsere Erfahrung hat uns misstrauisch gemacht. So sehr wir uns auch sagen, wir dürften das nicht verallgemeinern und sollten nicht «paranoid» sein, wir sind trotzdem auf der Hut. Für unser erstes Kind gab es keinen Platz in der Krippe, und die einzige Tagesmutter, die wir gefunden haben, war ausgerechnet ein Mann. Natürlich konnte ich mich nur schwer mit dieser Idee befreunden. Alles ging schliesslich gut, aber ich musste ständig mit der Angst kämpfen, weil ich mein Kind den ganzen Tag in seiner Obhut liess.
In Ihrem Film thematisieren Sie auch die Rolle der Eltern. Was raten Sie Eltern, um ihre Kinder vor Missbrauch zu schützen?
Der Psychologe, der mich einige Zeit begleitet hat, riet mir, solche Dinge anzusprechen. Er sagte, Eltern müssten ihre Kinder warnen, ihnen zum Beispiel sagen, sie sollen sich nicht von einem Erwachsenen irgendwo anfassen lassen oder zu einem Unbekannten ins Auto steigen. Wenn das Kind dann einmal in so eine Situation gerät, weiss es, wie es reagieren soll. Es ist wachsam und misstrauisch. Man darf natürlich auch nicht überreagieren oder überängstlich sein. Als Eltern dieses Gleichgewicht zu finden, ist aber manchmal nicht leicht. Vor allem wenn man selber als Kind missbraucht worden ist.