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SRF DOK Von Abstand, Anbauten und Aggressionen

In der Schweiz wird gebaut, viel gebaut. Dieser Bauboom führt zu Konflikten. Laut Experten haben Streitigkeiten unter Nachbarn klar zu genommen. Auch Filmautor Hanspeter Bäni stört das Bauvorhaben seines Nachbars. Nun fragt er sich: Lohnt es sich, die gute Nachbarschaft aufs Spiel zu setzen?

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Hanspeter Bäni arbeitet als Videojournalist. Seine Filme und Reportagen widmen sich gesellschaftspolitischen Themen und haben mehrfach nationale Diskussionen ausgelöst.

Das ist keine Geschichte über den Garten. Aber es ist eine Geschichte über meine Familie und unseren Nachbarn, der seinen Garten verbauen möchte. Dagegen könnten wir Einsprache erheben, würden jedoch damit riskieren, die bisher gute nachbarschaftliche Beziehung zu trüben. Unser Verhalten wäre kein Einzelfall, denn Nachbarschaftskonflikte haben in den letzten Jahren zugenommen. Verdichtetes Bauen sei einer der Hauptgründe dafür, sagen Experten.

Der Blick aus unserem Küchenfenster schweift über eine Wiese mit Bäumen und Sträuchern und endet am gegenüberliegenden Bauernhof des Nachbarn. Doch das kleine Glück ist bedroht. Der Nachbar hat Pläne. Pläne, die uns nicht behagen. Sein in die Jahre gekommener Bauernhof soll renoviert und ausgebaut werden. Das wäre das Ende unserer kleinen Oase. Die Wiese müsste einem Parkplatz weichen sowie einem Hausanbau mit zusätzlichen Wohnungen. Noch ist das Baugespann nicht aufgestellt, aber unser Widerstand hat sich bereits aufgebaut. Sollen wir gegen das Projekt Einsprache erheben?

Leben auf engem Raum: Gedränge statt Glück

In den vergangenen Jahren zogen jährlich zwischen 70 000 bis 100 000 Personen aus dem Ausland in die Schweiz. Das ist mit ein Grund für den Bauboom hierzulande. Im Schnitt entstehen jährlich rund 40 000 neue Wohnungen. Pro Sekunde wird in der Schweiz ein Quadratmeter Land verbaut. Pro Tag sind das zehn Fussballfelder. Die Zersiedlung schreitet voran. Um sorgsamer mit der Landschaft umzugehen, sind neue Lösungen gefragt. Verdichtetes Bauen ist ein vielversprechender Ansatz. Besonders sinnvoll scheint verdichtetes Bauen in Quartieren mit bestehenden Häusern zu sein, wo auf vorhandenen Parzellen Wohnerweiterungen errichtet werden können, sei es durch zusätzliche Stockwerke oder Anbauten.

Doch die eigentlich sinnvolle Idee hat einen Haken: aus dem verdichteten Bauen resultieren engere Wohnverhältnisse. Und wer auf engerem Raum lebt, kann sich schnell einmal gestresst fühlen. Dann kann schon ein falsches Wort reichen, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen.

Distanz ist elementar wichtig

Psychiater Mario Etzensberger verweist im Dokumentarfilm «Kampfzone Garten» auf Forschungen an Mäusen und Ratten. Resultat: Nager, die gezwungen wurden, miteinander auf engem Raum zu leben, zeigten äusserst aggressives Verhalten, indem sie schwächere Tiere töteten oder frassen. Auch der Mensch sei äusserst stressanfällig, wenn sein gefühlter Lebensraum eingeengt wird, betont Etzensberger. Wenn jemand einer anderen Person zu nahe kommt, sei dies eine Grenzverletzung, die man als Bedrohung empfinde. Und genau diese Mechanismen würden auch bei Nachbarschaftskonflikten spielen, sagt der Psychiater. Distanz sei deshalb elementar wichtig.

Laut einer Umfrage des Schweizerischen Dachverbandes für Mediation haben Nachbarschaftskonflikte in den letzten fünf bis zehn Jahren klar zugenommen. «Man weiss, dass mit der Einführung des Stockwerkeigentums, das ja auch eine Form des verdichteten Bauens ist und die Menschen deshalb näher aufeinander leben, die Konflikte zugenommen haben», sagt Andrea Staubli. Die Präsidentin des Dachverbandes weist auf die Möglichkeit einer Mediation hin. Durch eine neutrale Fachperson könnten Streitfälle beleuchtet und gemeinsam Lösungen gesucht werden.

Wohnqualität trotz engem Raum

Mit zunehmendem Wohlstand können sich die Menschen mehr Wohnraum leisten. Laut Angaben des Bundesamtes für Statistik beanspruchte 1980 eine in der Schweiz lebende Person 34 Quadratmeter Wohnfläche. Heute sind es deren 44. Als mögliche Gegenmassnahme diskutieren inzwischen Fachleute über eine sogenannte «Wohnflächenabgabe». Wer seinen Wohnflächenverbrauch knapp hält, würde steuerlich belohnt, wer grossflächig wohnt, müsste mehr bezahlen. Allerdings ist das Modell noch nicht ausgereift und auf seine Wirksamkeit überprüft worden. Aber man könnte ja auch die Möglichkeit der persönlichen Anpassung an die sich laufend verändernden Lebensumstände in Betracht ziehen.

Eine Prise mehr Demutshaltung, eine Spur mehr Toleranz, Respekt und Akzeptanz, dazu ein grosse Portion Gelassenheit. Wer im Schweizer Mittelland weites, unberührtes Land sucht, wird ohnehin enttäuscht werden. Aber Weitsicht kann jeder in sich selbst finden. Daran werden wir arbeiten – meine Familie und ich. Gegen das Bauvorhaben des Nachbarn werden wir jedenfalls keine Einsprache erheben.

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