Es ist eine Binsenwahrheit, in der viel Wahres steckt: Wenn es zu gut klingt, um wahr zu sein, dann ist es vermutlich nicht wahr. Das gilt für vermeintlich risikolose Traumrenditen, für aus unerklärlichen Gründen bis ins fortgeschrittene Alter ledig gebliebene Traumfrauen und –männer und auch für Länder, in denen angeblich alles besser ist. Argentinien sei schlicht wunderbar, hatte sich die Familie Pfeuti 1936 sagen lassen. Dort wachse alles von selber. Ausserdem sei es das ganze Jahr warm. Im Grunde müsse man nur noch den Liegestuhl aufstellen, alles Weitere ergebe sich dann quasi von selbst.
Zur Ausreise gebracht worden
Nun, Argentinien ist tatsächlich ein wunderbares Land. Der Magie der Wasserfälle von Iguazu wird sich beispielsweise kaum jemand entziehen können – ich konnte es jedenfalls nicht. Wer schon mal in die «Garganta del Diablo», in den «Schlund des Teufels», geblickt hat, dem offenbart sich der dialektische Kern der Natur an sich: Da ist ihre atemberaubende Schönheit, da sind aber auch ihre gnadenlosen Urgewalten.
Dass sie sich mit ihrer Auswanderung beidem ausliefern würden, der Schönheit und den Urgewalten der Natur gleichermassen, wurde der Familie wohlweislich verschwiegen. Denn die Schweiz wollte sie loswerden. Paul Pfeuti war nämlich ein armer Schlucker, der seine Familie als Bürstenbinder im Berner Lorraine-Quartier mehr schlecht als recht über die Runden brachte. Indem solche Leute zum Verlassen der Eidgenossenschaft gebracht wurden, sollte die hiesige Allgemeinheit entlastet werden. Gleichzeitig suchte die argentinische Regierung Menschen, die ihr Land urbar machten und eine Exportwirtschaft aufzubauen begannen.
Es ging aufwärts
Die Familie Pfeuti landete mitten im Urwald – unter einem Ort namens Eldorado hatte sie sich irgendwie etwas anderes vorgestellt. Doch es gab kein Zurück. Es gab nur Tränen, Schweiss und Entbehrungen. Und es gab das Leben, das schliesslich triumphierte.
1953 kam Elvira zur Welt – seit ihrer Heirat heisst sie nicht mehr Pfeuti, sondern Friedrich-Pfeuti. Elvira Friedrich-Pfeuti zeigt noch heute mit einem gewissen Stolz, wo ihre Familie mit der Zeit begann, sich ein Zuhause zu schaffen. Sogar eine Art Waschküche und ein Badezimmer hatten sie. Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit, für die Familie Pfeuti war es in ihrer neuen Heimat Argentinien ein Symbol dafür, dass es aufwärts ging.
Die Küsschen-Frage
Die Zeiten haben sich geändert: Aus der Schweiz ist inzwischen ein Eiwanderungsland geworden, ein Land der Möglichkeiten. Wer fleissig ist und es zu etwas bringen will, dem stehen hier – sofern man ihn reinlässt – alle Türen offen. Und so machte Vanesa Friedrich, die Tochter von Elvira Friedrich-Pfeuti, das Gegenteil und doch das Gleiche wie ihre Vorfahren: Sie verliess ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie wanderte von Argentinien in die Schweiz aus.
Diesmal hiess es, die Schweiz sei ein wunderbares Land. Das ist natürlich in vielerlei Hinsicht absolut richtig. Vanesa Friedrich musste allerdings feststellen, dass auch diese Medaille eine Kehrseite hat. Dass einem der Schweizer zur Begrüssung die Hand reiche, stehe für sie beispielsweise sinnbildlich für eine zwischenmenschliche Distanziertheit, sagt sie. In Argentinien begrüsse man auch Fremde mit Küsschen – in Buenos Aires mit einem Küsschen, in der Provinz Misiones mit zwei Küsschen. Nach meiner Rückkehr aus Argentinien habe ich Vanesa Friedrich dann mit einer Umarmung und zwei Küsschen begrüsst – ich habe meinen Beitrag geleistet, finde ich…