Als ich die Familie das erste Mal besuche, sitzt der Schock über den Verlust der Frau und Mutter tief. Eveline starb von einer Sekunde auf die andere an einer schweren Hirnblutung. Das Leben von Patrick (39), Raphael (12) und Leonie (9) nimmt damit eine dramatische Wendung. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Es braucht einige Zeit, bis die Familie Vertrauen in das Filmteam fasst. Eveline sei ein Mensch gewesen, der gerne anderen geholfen habe, meinen Patrick und die Kinder. Wenn dieser Film anderen in ähnlicher Situationen helfen könne, wäre es in ihrem Sinne. So lassen sie sich das erste schwere Jahr von mir und dem Kamerateam begleiten. Die Dreharbeiten sind zu Beginn für alle nicht einfach. Meine Fragen zwingen die Familie, die für sie schmerzhafte Zeit, nochmals zu durchleben. Auch für das Kamerateam sind das emotionale Achterbahnfahrten, und es ergeben sich viele Gespräche über den Sinn des Lebens und des Sterbens.
«Ausnahmezustand» war früher sichtbar
Ich bin in einem katholischen Gebiet aufgewachsen. Dort war es bis vor einiger Zeit Brauch, dass nach dem Tod eines Angehörigen, ein Jahr lang schwarze Kleidung oder ein Trauerflor getragen wurde. Trauerjahr, nannte man dies. Klar ersichtlich auch gegen aussen: Hier hat jemand einen lieben Menschen verloren und ist in einer Art «Ausnahmezustand». Bis zum ersten Todestag wurde dem Rechnung getragen.
Die Einsamkeit nach der Beerdigung
Heutzutage muss alles viel schneller gehen. Ein ganzes Jahr lang zu trauern und ein wenig anders zu funktionieren als sonst – das liegt nicht mehr drin. Bis zur Beerdigung ist die Anteilnahme gross. Man fühlt sich umsorgt und aufgehoben. Danach gehen alle zurück in ihren Alltag, und die Trauernden fühlen sich einsam. Dabei beginnt für Patrick und die Kinder erst jetzt der eigentliche Verarbeitungsprozess. Doch fast niemand fragt mehr, wie es ihnen geht. Die Menschen würden ihm aus dem Weg gehen, man wolle nicht über den Tod reden, erzählt Patrick. Niemand wird gerne an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Er soll sich zusammennehmen, das Leben gehe weiter, bekommt er zu hören. Doch für ihn und die Kinder ist es noch ein langer Weg zurück zu einer Normalität, die so anders sein wird als vorher.
Wann ist der richtige Zeitpunkt?
Die beiden Kinder trauern sehr unterschiedlich um ihre Mutter. Leonie plagen starke Verlustängste, und sie will ihren Vater ständig um sich haben. Raphael dagegen möchte am liebsten den ganzen Tag gamen und sich ablenken. Patrick sorgt sich um die beiden, möchte ihnen das Leiden erträglicher machen, ihnen die Mutter ersetzen. Daneben muss er weiter funktionieren. Vieles will erledigt sein. Es ergeben sich auch ganz praktische Fragen: Wann ist der richtige Zeitpunkt, die Schuhe von Eveline wegzuräumen? Soll er die Bettwäsche waschen, obwohl Leonie sich immer noch ins Bett der Mutter verkriecht? Ab wann gelten wieder die «normalen» Regeln beim Gamen? Und... wo bleibt seine Zeit um zu trauern? Darf er vor den Kindern Schwäche zeigen?
Monat für Monat besuchen wir die Familie und erleben mit, wie die Zeit tatsächlich heilt. Nach einem Jahr ist Patrick froh, hat er sich auf das Filmprojekt eingelassen. Unsere Gespräche vor und nach den Drehtagen hätten ihm gut getan, meint er. «Vor einem Jahr hätte ich mir nicht vorstellen können, dass wir mal so weit kommen. Freude und Spass mussten wir wieder finden ohne Eveline. Aber ich denke, das haben wir wieder gefunden. Je länger je mehr. Obwohl es nie mehr so sein wird wie vorher.»