Es ist eine Winternacht im Februar 2000, als die 30-jährige Gina in den Aargau gefahren wird. Der Fahrer ist ihr damaliger Freund.
Die Frau will zur Mutter in Kleindöttingen. Streit habe es zwischen dem Paar gegeben, heisst es später in den Ermittlungsakten.
Der Mann fährt zurück nach Zürich, die Frau bleibt. Doch in derselben Nacht verlässt Gina die Wohnung der Mutter wieder und kehrt nicht mehr zurück.
Ich glaube, meine Mutter hat mich geliebt.
Warum sie gegangen ist, bleibt ein Rätsel. Ihr 3-jähriger Sohn Marco, der zum Zeitpunkt ihres Verschwindens in einem Kinderheim in Zürich lebt, wird seine Mutter nie mehr sehen.
Marco Hauenstein ist heute 25 Jahre alt. Er lebt mit seinem Freund in Hannover und arbeitet dort in der Altenpflege. «Ich glaube, meine Mutter hat mich geliebt», sagt er. «Sonst wäre sie mich nicht im Heim besuchen kommen.»
Der junge Mann ist auf einem Auge blind. Wahrscheinlich wegen des Heroinkonsums seiner Mutter.
Kaum auf der Welt muss er einen Drogenentzug machen und hat stets zu kämpfen mit Konzentrationsschwierigkeiten, auch das wohl eine Folge des Drogenkonsums.
Marco Hauensteins Geschichte ist kaum zu glauben und geprägt von einem unbändigen Willen eines Sohnes, die Mutter zu finden.
Vermisstensuche auf Facebook
Es war im Januar 2017 als Marco Hauenstein seine ungewöhnliche Suchaktion startete: Er teilt seine Geschichte auf Facebook mit und fragt nach Hinweisen zu seiner Mutter.
«In der Jugendzeit – die nicht immer einfach war – stieg bei mir das Bedürfnis, mehr über meine Mutter zu erfahren», sagt er.
Dass sie als verschwunden galt, habe er gewusst. Mehr nicht. «Ich kannte ihren Namen und hatte ein einziges Foto von ihr: ein Bild in Schwarz-Weiss.»
Zahlreiche Hinweise und ein Privatermittler
Das Echo auf seine Facebook-Nachricht war überwältigend. Zahlreiche Meldungen seien eingegangen, viel Zuspruch habe er erhalten, aber auch Kritik: Er sei geltungssüchtig. Mit all den Nachrichten sei er schlicht überfordert gewesen, sagt er rückblickend.
Der Privatermittler Philip Ryffel schaltet sich ein. Er hilft dem jungen Mann, die Nachrichten zu ordnen und die Suche nach der Mutter voranzutreiben.
«Als wir feststellten, dass eine offizielle Vermisstenanzeige besteht, nahm der Fall eine ganz andere Wende», sagt Privatermittler Ryffel. «Nun galt es bei der Polizei nachzuhaken, was sie über den Fall weiss.»
Druck der Medien und Fehler der Polizei
«Dass ein Junge nicht erfährt, dass ein Knochen seiner Mutter gefunden wurde, das ist ein schwerwiegender Fehler und kommt zum Glück nur selten vor», sagt die langjährige Gerichtsreporterin Christine Brand.
Sie kennt den Fall von Marcos Mutter gut. Trotz des Drucks der Medien nach dem Facebook-Aufruf, hätten die Behörden zuerst so getan, als lägen keine relevanten Informationen zum Fall vor. Das war falsch.
Die Kantonspolizei Aargau musste ihre ursprüngliche Aussage revidieren und informierte schliesslich im Februar 2017 Marco Hauenstein und die Öffentlichkeit darüber, dass bereits im Jahr 2013 ein Oberschenkelknochen seiner Mutter gefunden worden sei.
Emotionslos und trocken hätten ihm die Polizisten in aller Kürze mitgeteilt, dass seine Mutter gestorben sei.
Man habe diesen Knochen gefunden, er könne seine Suche beenden. «Ich war völlig aufgelöst, geschockt und konnte es nicht fassen», sagt Marco Hauenstein.
Warum diese Nachricht nie an den Betroffenen weitergeleitet wurde, lasse sich nicht mehr rekonstruieren, sagt Corina Winkler, Kommunikationschefin der Kantonspolizei Aargau. «Wir haben uns für diese Panne mit einer Medienmitteilung öffentlich bei den Angehörigen entschuldigt und unsere Lehren daraus gezogen.»
Was ist mit dem zweiten Knochen?
Aufgrund der Medienmitteilung der Aargauer Kantonspolizei meldet sich schliesslich im Jahr 2017 auch die Finderin des Knochens bei Marco Hauenstein. Stefanie Schneiderat erzählt von einem zweiten Knochen, den sie damals im Jahr 2013 gefunden habe.
Mit Mann und Kindern sei sie am Rheinufer im süddeutschen Dogern baden gewesen. Auf einmal sei ihr Sohn mit diesem grossen Knochen angerannt gekommen und habe gerufen: «Mama, schau’, was ich gefunden habe!»
Neben ihm der Hund mit einem kleineren Knochen in der Schnauze. Ob das Menschenknochen sein könnten, habe sie ihren Mann gefragt. «Du liest zu viele Krimis», sei dessen Antwort gewesen.
Eine inoffizielle schriftliche Nachricht seitens der Polizei bestätigt der Finderin 2013, dass beide Knochen menschlichen Ursprungs sind. Die Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen will gegenüber SRF nichts davon wissen.
Staatsanwaltschaft vernichtet Knochenteil
Auf Anfrage schreibt die zuständige Staatsanwaltschaft: «Neben einem menschlichen Knochen wurde ebenfalls ein Tierknochen aufgefunden. Dieser Knochen wurde nach Einstellung des Todesermittlungsverfahrens vernichtet.»
Mit anderen Worten: Von den beiden Knochen, die Stefanie Schneiderat der deutschen Polizei damals übergeben hat, war gemäss Behörde nur einer ein Menschenknochen. Eben jener Oberschenkelknochen, welcher später der vermissten Gina zugeordnet werden konnte.
Hinter jedem Vermisstenfall kann ein Verbrechen stecken
Ob Marco Hauensteins Mutter, die im Milieu verkehrt hat, einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist oder Suizid begangen hat, ist unklar. Für Gerichtsreporterin Christine Brand sind beide Optionen möglich.
«Ging sie weg, weil sie noch einmal einen Auftrag hatte oder verliess sie das Haus aus einem anderen Grund?», das sei die entscheidende Frage, sagt Christine Brand. Der Fall ist bis heute nicht geklärt.
«Man kann nicht sagen, ob sie Opfer eines Verbrechens wurde», sagt Corina Winkler von der Kantonspolizei Aargau. «Aber, man kann es – wie in jedem Vermisstenfall – auch nicht ausschliessen.»
Für Marco Hauenstein ist längst nicht eindeutig, dass seine Mutter tot ist. «Die Chancen sind klein, das muss ich einsehen, und trotzdem glaube ich daran, dass sie noch leben könnte», sagt der 26-Jährige.
Christine Brand, die immer wieder mit Vermisstenfällen konfrontiert ist und Marco Hauenstein gut kennt, meint dazu: «Ich glaube, Marco weiss, dass seine Mutter nicht mit nur einem Oberschenkel herumlaufen kann. Aber etwas wissen ist nicht dasselbe wie Gewissheit haben.»
Gerade bei Vermisstenfällen komme es häufig vor, dass sich Menschen an diesen letzten Funken Hoffnung klammerten.