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Übertritt ins Gymnasium Chancengleichheit in der Bildung

Nicht alle haben in der Schweiz die gleichen Chancen ein Gymnasium zu besuchen – und das hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Im Kanton Zürich, wo es eine Aufnahmeprüfung braucht, ist es für Jugendliche mit Migrationshintergrund besonders schwierig. Das Projekt ChagAll hilft ihnen weiter.

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Yusuf Yeşilöz wurde 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien/Türkei geboren, kam 1987 in die Schweiz und lebt mit seiner Familie in Winterthur. Er ist freier Autor und Dokumentarfilmer

SRF DOK: Wie ist die Idee des ChagAll-Projektes vor rund zehn Jahren entstanden?

Jürg Schoch, Direktor Gymnasium Unterstrass, Zürich : In Unterstrass bilden wir in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Zürich auch Lehrerinnen und Lehrer aus. Entsprechend sind grundsätzliche Bildungsfragen ein Thema. Untersuchungen zeigen, dass in den Schweizer Schulen zwei Arten von Kindern besonders benachteiligt sind: jene aus finanziell bescheidenen Verhältnissen und die Fremdsprachigen. Sie haben selbst bei hoher Intelligenz nur sehr geringe Chancen auf eine höhere Schulbildung.

Es stellte sich uns die Frage: Tut denn da niemand etwas gegen diese Ungerechtigkeit?

Der letzte Zeitpunkt, an dem die Weichen gestellt werden können, ist am Ende der obligatorischen Schulzeit. Also nach der 3. Sekundarklasse. Da stellte sich uns die Frage: Tut denn da niemand etwas gegen diese Ungerechtigkeit? Und uns wurde bewusst: wir haben ja auch gymnasiales Know-how. Die Frage fiel auf uns zurück. Könnten wir da allenfalls ganz im Kleinen etwas tun? Darauf setzten wir uns bei einem guten Glas Wein mit externen Fachleuten zusammen und entwickelten Ideen. Daraus entstand schrittweise ChagALL.

Wir sind mit dem Projekt ChagALL ein Stück weit zu unseren Wurzeln zurückgekehrt.

Unsere gemeinnützige Schule in evangelischer Trägerschaft verstand sich schon immer als Schule für «Aufsteiger». In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung im Jahr 1869 waren hier viele «Landeier» aus einfachen Verhältnissen in Ausbildung. Aus dem Stammertal, dem Glarnerland, dem Zürcher Oberland. Sie kamen aus einfachen Verhältnissen, hatten also nicht die Möglichkeit, in der Stadt ein Gymnasium zu besuchen. Das Seminar mit seinem Internat war ihre Chance, eine höhere Schulbildung zu absolvieren. Insofern sind wir mit ChagALL ein Stück weit zu unseren Wurzeln zurückgekehrt.

Welche Erfolge darf das ChagAll-Projekt verbuchen?

Dank der Unterstützung durch Stiftungen gelang es innert weniger Jahre, ein funktionierendes Konzept zu entwickeln. Über 70 Prozent der Jugendlichen schaffen es in eine höhere Schule ihrer Wahl. Gut 80 Prozent von ihnen bestehen dann auch ihre Berufsmittelschule, eine Fachmittelschule oder ein Kurzgymnasium. Viele weitere bekommen dank ihrer soliden zusätzlichen Vorbildung sehr gute Lehrstellen.

Auch Kinder von Schweizer Familien mit niedrigen Einkommen könnten ihr Angebot brauchen, dürfen es aber nicht nutzen. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Wir verstehen die Kritik. Aber man kann nicht alles. ChagALL konzentrierte sich von Anfang an auf diejenigen Jugendlichen, die doppelt benachteiligt sind: wenig Geld zu Hause und zwei fremdsprachige Elternteile. Wir hoffen noch immer, dass jemand ein «ChagALL für Schweizer» wagt und sind gerne bereit, da mit zu denken.

Gibt es typische Beispiele, wie Kinder aus fremdsprachigen Familien in der Volksschule benachteiligt sind?

Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache: Nehmen wir als Beispiel Gazmend aus dem Kosovo. Sein Vater ist Hotelportier, seine Mutter Reinigungsangestellte. Sie sprechen zu Hause albanisch. Gazmend ist aber ein guter Schüler, hat in der 6. Klasse einen Durchschnitt von 4.5. Mias Eltern sind Schweizer. Der Vater Jurist und die Mutter Lehrerin. Sie hat auch eine 4.5 in der gleichen 6. Klasse. Ihre Chance, ins höhere Niveau der 1. Sekundarklasse (A) eingestuft zu werden, ist bis zu vier Mal höher.

Ein anderes Beispiel: Soraya aus Sri Lanka hat es dank guter Intelligenz und enormem Fleiss knapp ins Gymnasium geschafft. Zu Hause lebt sie mit drei Geschwistern und den Eltern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ihre Sekundarlehrerin hat ihr geraten, jeweils um halb sechs Uhr aufzustehen und in der Küche in Ruhe zu lernen. Das macht sie auch in diesen ersten Monaten im Gymnasium. Manche Aufgaben und Themen kommen ihr aber sehr fremd vor. Die Eltern können ihr nicht helfen. Am Schluss der Probezeit müssen sechs von 26 Schüler/-innen die Klasse verlassen. Soraya ist auch unter ihnen. Im Deutsch sei sie einfach zu schwach.

Wann ist aus Ihrer Sicht die Chancengerechtigkeit in der Bildung gegeben?

Die Menschen sind verschieden, auch verschieden begabt. Gerecht ist ein Bildungssystem dann, wenn es jedem Kind ermöglicht, aus seinem je individuellen Potenzial das Beste zu machen, wenn es denn will.

Warum ist ein solches Projekt wie ChagALL in der Volksschule nicht möglich?

In Basel, in St. Gallen und in Zürich hat das Projekt bereits Nachahmer gefunden, teilweise auch an staatlichen Schulen. Es braucht dazu sicher drei Dinge: ein engagiertes, hoch motiviertes und kompetentes Team, dann eine positiv eingestellte, also unterstützende Schulleitung bzw. Behörde und schliesslich eine vernünftige Finanzierung. Das ChagALL-Team unterstützt solche Initiativen und berät in der Anfangsphase.

Das Interview wurde von Yusuf Yesilöz schriftlich geführt.

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