Er liest sich wie eine Krankenakte, der «Rapporto Italia», der Patient heisst Italien und hat mit akuten und vielen chronischen Krankheiten zu kämpfen. Der «Rapporto Italia» ist die «Bibel» der neuesten Daten und Fakten, erstellt im Auftrag des Forschungsinstitutes Eurispes .
Die Angst vor Migration
So analysiert der Bericht, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Italiens das Thema Migration und innere Sicherheit weiterhin den grössten Raum einnimmt. Nicht erst seit den Schüssen von Macerata, als ein Rechtsradikaler Anfang Februar mehrere Schwarzafrikaner verletzte, setzen vor allem die Rechtsparteien auf dieses Thema.
Ob Rechtsnationale, Lega-Anhänger oder die Parteigänger von Silvio Berlusconi – sie alle sehen Italien in Gefahr – überrollt von anhaltenden Migrationsströmen aus Afrika.
Dabei sprechen die Zahlen eine andere Sprache. 2017 ist die Ankunft von Migranten und Flüchtlingen in Italien über die südliche Mittelmeerroute um ein Drittel zurückgegangen: Knapp 119’000 Personen wurden letztes Jahr noch in den Aufnahmezentren und Hotspots Süditaliens registriert.
Kein Vertrauen in die Regierung
Eigentlich ein Erfolg für die Regierung von Paolo Gentiloni, die sich am 4. März der Wiederwahl stellt. Dank des von Italien ausgehandelten «Flüchtlingspakts» mit Libyen nimmt die Zahl jener, die den Weg über das Mittelmeer suchen, stetig ab. Doch das Thema Migration zeigt, wie wenig Kapital die Mitte-Links-Koalition aus dem Ergebnis von fünf Regierungsjahren schlagen kann.
Viele Italiener sind überzeugt, dass diese Regierung die drängenden Probleme wirtschaftlicher und sozialer Art nicht lösen kann. Vier Fünftel sprechen Staat und Regierung das Misstrauen aus – nicht nur beim Thema Einwanderung, sondern auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder der Schaffung von Zukunftsperspektiven für die Jüngeren.
Wieder einmal zeigt das «Bauchgefühl» vieler die Ungeduld und das tiefe Misstrauen der Italiener gegenüber nachhaltiger Reformpolitik. Denn der «Rapporto Italia» belegt, dass seit Beginn der Wirtschaftskrise vor 15 Jahren erstmals auch wieder Optimismus wächst.
Mehr als die Hälfte der Italiener geht davon aus, dass sich 2018 die persönliche, wirtschaftliche Situation stabilisieren und verbessern wird. In den Jahren zuvor glaubten 80 Prozent noch das Gegenteil!
Leichtes Wirtschaftswachstum
Die Wirtschaft wächst wieder, wenn auch nur leicht; die Zahl der Beschäftigten nimmt zu. Die Regierung führt das unter anderem auf den «Jobs Act» zurück: ein Programm von Steuer- und Abgabenerleichterungen für Unternehmen bei Neuanstellung und mehr Möglichkeiten für befristete Arbeitsverträge.
Doch im Bewusstsein der meisten Italiener schlägt sich das nicht nieder – oder zumindest glauben sie nicht, dass ein möglicher Aufschwung auch im persönlichen Lebensumfeld im direkten Zusammenhang mit Regierungspolitik steht.
Das Geld reicht trotzdem nicht
Denn noch immer liegt der Beschäftigungsgrad in Italien sehr tief. Nur 58 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung geht einer Arbeit nach. 34 Prozent der Italiener suchen gar keinen Job. Das sind junge Menschen, Frauen, aber auch Arbeitsfähige über 50 Jahren.
Gleichzeitig müssen vier von zehn Familien monatlich auf die eigenen Ersparnisse zurückgreifen. Ein Drittel aller Befragten lebt laut «Rapporto Italia» trotz Ausbildung und Beruf auch noch vom Geld der Eltern und Grosseltern.
Kein Wunder, dass viele junge und gut ausgebildete Italiener deshalb ihr Glück im Ausland suchen. So sind zwischen 2005 und 2015, am Höhepunkt einer langen Wirtschaftskrise, über 10’000 Ärzte ausgewandert.
Jetzt arbeiten sie in der Schweiz, Deutschland oder Frankreich – nachdem ihr Heimatland Hunderttausende von Euro in ihre Ausbildung gesteckt hat. Volkswirtschaftlich ist für Italien dieser Auszug der «Cervelloni», der «Brain-Drain» gut ausgebildeter Fachkräfte, fatal.
Wer bleibt, schimpft lieber über die Regierung oder die Politik – und erteilt ihr bei der nächsten Wahl einen Denkzettel.
Italiens Kurzzeitgedächtnis
Gian Maria Fara, der Präsident von Eurispes, geht mit seinen Landsleuten hart ins Gericht: «Einerseits sind sie die ersten, die ihren Nachbarn der Steuerhinterziehung bezichtigen, gleichzeitig vergessen sie aber auch schnell, dass sie erst gestern selbst ohne Rechnung Geld steuerfrei erhalten haben.»
«Die Italiener haben vor allem ein Kurzzeitgedächtnis … anders wäre es auch nicht zu erklären, warum sie einem 82-Jährigen und in letzter Instanz Verurteilten wieder ihre Stimme geben wollen!»
Silvio Berlusconi sonnt sich in diesem neuen politischen Frühling. Viele sehen ihn angesichts der Anzahl und des Erfolgs populistischer Parteien und Gruppierungen sogar als Garant für Recht und Stabilität.
Mitte-Links, allen voran Matteo Renzi, selbst fast zwei Jahre Regierungschef und selbsternannter «Verschrotter» des alten ineffizienten Italiens, droht bei diesen Wahlen auf der Strecke zu bleiben. So wie viele Reformvorhaben, welche das Land wieder aus Krise und Rezession führen sollten.
Italien bleibt ein Patient, dessen Heilung schon viele hat verzweifeln lassen.
DOK-Film: «Italiens Krisengeneration»