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Aleppo, eine verwundete Stadt in einem verwundeten Land.
Aus DOK vom 08.05.2019.
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Acht Jahre Krieg in Syrien Warten auf Frieden und Wiederaufbau

Nach Jahren des Kriegs in Syrien ist klar: Präsident Assad hat den Krieg dank Hilfe Russlands und des Iran gewonnen. Das Land ist zerstört und eine Aussöhnung in weiter Ferne. Ein Bericht unseres Nahost-Korrespondenten.

Vielleicht geht der Blick der alten Frau tatsächlich zum überlebensgrossen Portrait von Präsident Assad, das direkt vor uns an den Mauern hängt. Vielleicht aber schaut Umm Mustafa auch einfach ins Leere. «Was soll dieses Leben noch? Für mich gibt es nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt.»

Diese Kinder sind Waisen, sie sind die Kinder meines toten Sohnes.
Autor: Umm Mustafa lebt in Aleppo

Sie hat in diesem Krieg einen Sohn, zwei ihrer Schwiegersöhne und drei Enkelkinder verloren. Mit ihren beiden verwitweten Töchtern und ihren verbliebenen Enkeln sitzt sie an diesem Tag im Abendlicht vor der Zitadelle von Aleppo und versucht zu vergessen, was sie nicht vergessen kann. «Diese Kinder sind Waisen. Sie sind die Kinder meines toten Sohnes. Die Kinder meines zweiten Sohnes kann ich leider nicht einmal mehr sehen: sie sind tot. Es tut so weh, sie nicht mehr sehen zu können.»

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Umm Mustafa: «Was soll dieses Leben noch?»
Aus DOK vom 08.05.2019.
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Umm Mustafa ringt mit den Händen. «Wir waren nicht neidisch auf das, was die Herrschenden hatten. Gott hatte es gut gemeint mit uns vor dem Krieg. Wir hätten nie gedacht, dass uns ein solches Schicksal treffen würde.»

Pascal Weber

Pascal Weber

Nahost-Korrespondent, SRF

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Seit 1999 arbeitet Weber für SRF. Als Redaktor und Produzent war er zunächst in der Sportredaktion tätig, danach bei «10vor10». Seit September 2010 ist er Korrespondent im Nahen Osten. Folgen Sie ihm auf Twitter.

Dann drückt die Angst durch. Sie wendet sich an die Mitarbeiterin des Informationsministeriums, die uns wie immer begleitet. «Bitte, ich will nicht, dass mir etwas geschieht. Gott segne Dich! Mein Herz ist gebrochen, und es tut weh, all das zu erzählen. Ich habe keine Ahnung, was passieren wird.» Es ist die Angst in Umm Mustafa, dass hier selbst Harmloses gefährlich werden kann.

Stadtruinen in Aleppo: Die Menschen warten auf Frieden und Wiederaufbau
Legende: Stadtruinen in Aleppo: Die Menschen warten auf Frieden und Wiederaufbau SRF

Acht Jahre Krieg. Eine halbe Million Tote. Die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht – die eine Hälfte davon innerhalb von Syrien, die andere Hälfte in den Nachbarstaaten, in Europa.

Aleppo ist selbst mehr als zwei Jahre nach der Rückeroberung der Stadt durch Präsident Assad und seine Verbündeten weit davon entfernt, eine normale Stadt zu sein. Die Zerstörung ist immer noch immens.

Der jüngste Winter war aussergewöhnlich lang und kalt. Dabei war wegen der US-Sanktionen gegen Syrien und den Iran, den wichtigsten Öllieferanten, zunächst das Heizöl knapp geworden, danach auch das Benzin. Das schürt neue Unruhe.

Jedes mal wenn man das Haus verliess, konnte es sein, dass man zurückkehrt – oder dass man nicht zurückkehrt.
Autor: Mahmoud al-Khatib Lehrer

Während die meisten Kinder von Aleppo seit einiger Zeit wieder zur Schule gehen können, gilt das für die Kinder in der östlichen Ghouta noch lange nicht. Hier, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum von Damaskus entfernt, hatten im Frühjahr 2018 die russische Luftwaffe und die syrische Armee die Rebellenbastionen rund um Douma zurückerobert. Mehr als 1’600 Menschen starben bei den Kämpfen.

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Mahmoud al-Khatib: «Wir brauchen Tonnen von Geld.»
Aus DOK vom 08.05.2019.
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Mahmoud al-Khatib lädt uns zum Tee ein. «Jeder von uns, der während der letzten sieben Jahre in Ghouta gelebt hat, wusste, dass er jeden Moment sterben konnte. Jedes mal wenn man das Haus verliess, konnte es sein, dass man zurückkehrt – oder dass man nicht zurückkehrt.»

Khatib ist Lehrer. Zusammen mit seinen Kollegen ist er dabei, die Schule in seinem Quartier wiederaufzubauen. «Wir brauchen Geld! Viel Geld! Tonnen von Geld!» Dabei habe der Krieg den ganzen Ort in die Armut getrieben: «Es gab Frauen, die haben ihre Körper verkauft, nur für etwas Essen...» Khatib ringt um jedes seiner Worte, so unfassbar ist ihm das Geschehene.

Wir haben viele Jahre verloren.
Autor: Kahde Schülerin

Im Schulhof treffen wir auf Kahde Mohammed Ali und Mariam Hafez. Mariam will einmal Ingenieurin werden, Kahde Künstlerin: «Wir gingen zwar zur Schule, aber kaum je länger als für eine Stunde. Dann begannen sie wieder zu kämpfen, und wir gingen wieder nach Hause. Wir haben viele Jahre verloren.» Was die Kinder von Ost-Ghouta erlebt haben, sollte kein Kind erleben müssen. «Ich möchte, dass Syrien wieder wird wie zuvor.» Der Wunsch von Kahde dürfte ein Wunsch bleiben.

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Kahde Mohammad Ali: «Ich möchte, dass Syrien wieder so wird wie früher.»
Aus DOK vom 08.05.2019.
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Mohammed al-Hanuss, der Gouverneur von Daraa, verschwindet fast hinter seinem riesigen Schreibtisch. Hinter ihm steht die syrische Flagge. An den Wänden hängen Portraits des Präsidenten: Bashar al-Assad hatte al-Hannus im Frühjahr 2011 in den ersten Tagen der Unruhen als Gouverneur eingesetzt, um die Proteste abzuschwächen.

Alles haben sie zerstört, mit dem Ziel, Syrien zu zerstören. Aber wir haben gewonnen, und die anderen werden besiegt werden.
Autor: Mohammed al-Hanuss Gourverneur unter Bashar al-Assad

Doch al-Hanuss sah keinen Anlass, den Protestierenden entgegenzukommen. «Welche Revolution, wie sie es genannt haben, welche Revolution beginnt damit, indem sie die Lebensgrundlagen zerstört? Das Ziel unserer Gegner war nicht eine Revolution, das Ziel war es, Syrien zu zerstören und es aufzuteilen in kleine Einzelteile.»

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Mohammed al-Hanuss: «Das Ziel der Gegner war es, Syrien zu zerstören und aufzuteilen.»
Aus DOK vom 08.05.2019.
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Auf unsere Fragen geht al-Hanuss gar nicht erst ein. Er stellt für uns ausländische Besucher lieber klar: Der Krieg gegen Assad sei eine Verschwörung gegen Syrien. «Alles haben sie zerstört, mit dem Ziel, Syrien zu zerstören. Aber wir haben gewonnen, und die anderen werden besiegt werden, so Gott will.» Es ist diese Unversöhnlichkeit, die Hoffnung gar nicht erst aufkeimen lässt.

Das spürt auch Noura Ghazi, die heute im Libanon lebt. Früher nannten ihre Mitstreiter Noura Ghazi «die Braut der Revolution».

Heute kämpft sie darum, herauszufinden, was mit Tausenden von Syrern in den Gefängnissen von Präsident Assad geschehen ist. «Die Regierenden bewegen sich kein bisschen. Mir scheint, sie handeln als ob sie wüssten, dass sie die Gewinner sind. Und als hätten sie eine Art Garantie, dass es für sie auch künftig keine Rechenschaftspflicht gibt.»

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Noura Ghazi:« Niemand soll mehr erleiden, was ich erlitten habe.»
Aus DOK vom 08.05.2019.
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Noura Ghazi weiss, wovon sie spricht. Ihr Vater war ein bekannter Dissident, immer wieder hat ihn das syrische Regime verhaftet. Und ihr Ehemann Bassel Khartabil wurde im Gefängnis getötet. «Ich habe Bassel in den ersten Tagen der Revolution kennengelernt. Wir wollten am ersten Jahrestag unseres Kennenlernens heiraten – aber zwei Wochen vor unserer Hochzeit haben sie ihn verhaftet.»

Ohne Rechenschaftspflicht für jeden, der in Syrien Verbrechen begangen hat, wird es keine Versöhnung geben.
Autor: Noura Ghazi Meschenrechts-Anwältin

Zehn Monate lang wusste sie nicht, was mit Bassel geschehen war. Dann tauchte Bassel im berüchtigten Adra-Gefängnis von Damaskus wieder auf. Kurze Zeit später heirateten die beiden im Gefängnis. «Während drei Jahren habe ich ihn regelmässig besucht. Dreimal pro Woche, im zentralen Adra-Gefängnis in Damaskus. Dann verschwand er erneut.» Es dauerte fast zwei Jahre, bevor Noura Ghazi erfuhr, dass ihr Ehemeann von einem Militärgericht zu Tode verurteilt worden war. So wie ihr geht es Tausenden in Syrien.

Noura Ghazi weiss inzwischen, dass Bassel tot ist. Mehr weiss sie nicht. «Ohne Gerechtigkeit und ohne Rechenschaftspflicht für jeden, der in Syrien Verbrechen begangen hat, wird es keine Versöhnung geben.» Doch genau davon ist Syrien weit entfernt.

Der Dokfilm zum Thema:

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Syrien – Sieg ohne Frieden | Wiederaufbau nach 8 Jahren Krieg
Aus DOK vom 08.05.2019.
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