Als Eltern hat man Pflichten. Die Eltern sind für Erziehung, Unterhalt, Fürsorge und Ausbildung ihrer Kinder verantwortlich. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) spricht von «elterlicher Sorge». Die Kinder stehen, solange sie minderjährig sind, unter der gemeinsamen elterlichen Sorge von Vater und Mutter. Und danach?
Plötzlich waren die Eltern weg – für immer
Diese Frage stellt sich den meisten Kindern nicht. Sie interessieren sich vor allem dafür, welche Rechte sie mit dem Erreichen ihrer Volljährigkeit erhalten. Dass die Eltern da sind, wenn man sie braucht, ist für die meisten Kinder eine Selbstverständlichkeit, die nicht an einem bestimmten Tag endet.
Dabei ist es ja durchaus möglich, dass die Eltern den 18. Geburtstag ihrer Kinder ebenfalls als Chance sehen: Als Chance für ein Leben danach – nach den Kindern. Als Chance, endlich wieder das machen zu können, was man schon lange wollte, aber nicht konnte, weil es die elterliche Sorge nicht zuliess.
Mera Doan war schon ein wenig älter als 18, als ihre Eltern ihr mitteilten, dass sie bald nach Vietnam auswandern würden. Sissi und Son Doan hatten gewartet, bis Mera mit der Lehre fertig und ausgezogen war. «Es hat mir das Herz zerrissen», erinnert sich Mera Doan an den Tag, als ihre Eltern die Schweiz verliessen. Plötzlich waren sie weg – für immer.
«Dass sie einfach hier wären…»
Das war vor acht Jahren. Und doch rührt Mera Doan die Frage nach der Auswanderung ihrer Eltern noch heute zu Tränen. Einerseits versteht sie, wieso sie gegangen sind. Für ihren Vater sei schon immer klar gewesen, dass er irgendwann in seine Heimat Vietnam zurückkehren werde. Und für ihre Mutter sei klar gewesen, dass sie mit ihrer grossen Liebe mitgehe. Andererseits sagt sie: «Ich vermisse sie extrem – in so vielen Situationen…»
Die elterliche Sorge, die viele Jugendliche als einengend empfinden, kann einem tatsächlich auch fehlen – wenn die Eltern zum Beispiel ans andere Ende der Welt ziehen. In aller Regel gehe es ja nicht um Weltbewegendes, sagt Mera Doan. «Es gibt einfach viele Situationen, in denen es mir wichtig wäre, dass sie hier wären und sehen würden, was bei mir läuft und was mir wichtig ist…»
«Grosselterliche Sorge»
Ihre ältere Schwester Lea Doan hat ihre Eltern vor allem in Zusammenhang mit der Geburt ihrer jüngsten Tochter Sol vermisst. Sie wäre froh gewesen um helfende Hände. «Man kann sich kaum vorstellen, was Grosseltern leisten», stellt sie heute fest. Bei ihren ersten beiden Kindern konnte sie noch auf die Hilfe ihrer Eltern zählen, jetzt nicht mehr.
Inzwischen treibt sie eine andere Sorge um: Was, wenn sie selber ihre elterliche Sorge irgendwann nicht mehr ausüben könnte? Was, wenn sie zum Beispiel sterben würde? Könnte sie sich dann auf so etwas wie «grosselterliche Sorge» berufen? Wären die Grosseltern für ihre Enkel da? Diese Frage habe sie ihrer Mutter gestellt, sagt Lea Doan – und sei gerührt gewesen über die Antwort: Zu wissen, dass ihre Eltern weit weg sind, aber trotzdem noch da, bedeute ihr viel.