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Zwilling mit Down-Syndrom Zusammenleben für Fortgeschrittene

Samuel Bickit hat das Down-Syndrom, seine Zwillingsschwester Virginie nicht. Die beiden wohnen zusammen mit Virginies Familie unter einem Dach. Wie organisiert sich das aussergewöhnliche Geschwisterpaar im Alltag? Ein Lebensentwurf, der Fragen aufwirft über Chancen und Grenzen der Inklusion.

Samuel Bickit und Virginie Plüss-Bickit sind zwar Zwillinge, ihre Lebenswege aber verliefen bisher unterschiedlich. Samuel stand wegen seiner gesundheitlichen Probleme von Anfang an im Mittelpunkt. Er war der Extrovertierte, sie die Stille. Schon von klein auf kümmerte sich Virginie um Samuel.

Die Zwillinge, als sie noch Kinder waren: Virginie sitzt am Boden und Samuel hinter ihr auf einem roten Holzstuhl.
Legende: Die Zwillinge Samuel und Virginie als sie noch klein waren. SRF

Bis Samuel 16 war, wohnte er bei seinen Eltern. Von da an lebte er unter der Woche in betreuten Institutionen. Zu Hause fühlte er sich dort nie. Besonders die Freizeitgestaltung war ein Problem.

Er durfte nicht selbstständig irgendwohin, musste im Zimmer bleiben – aus Personalmangel. Oder die Mitbewohner waren älter oder stärker beeinträchtigt. So hatte er keine Gleichgesinnten. Obwohl Samuel ein sehr geselliger Mensch ist.

Frau und Mann nebeneinander in der Sonne.
Legende: Samuel Bickit zusammen mit Zwillingsschwester Virginie: «Für uns passt das Zusammenleben so.» SRF

Virginie nabelte sich in der Jugend mehr und mehr von zu Hause ab. Anfang 20 begann sie ihr Studium. Der Kontakt zu Samuel blieb. Sie sah, dass ihr Zwillingsbruder in den betreuten Institutionen unglücklich war. Er kapselte sich immer mehr ab, war aggressiv, bekam Medikamente zur Beruhigung. Darum entschied sich Virginie 2020, ihren Zwillingsbruder zu sich zu nehmen.

Aussergewöhnliche WG-Partner

Die hochschwangere Virginie arbeitet drei Tage pro Woche als Lehrerin. Zusätzlich ihrem einjährigen Sohn Marvin gerecht zu werden, ihrem Zwillingsbruder Samuel und auch noch sich selbst – ein tagtäglicher Spagat.

Virgnie mit ihrem Sohn Marvin in der Küche.
Legende: Virgnie mit ihrem Sohn Marvin in der Küche. SRF

Sohn Marvin will die Welt entdecken. Samuel ist Polizei-Fan – für ihn ist Ordnung wichtig. Immer wieder gibt es Spannungen.

Zunehmend muss Virginie zwischen den beiden vermitteln. Und auch die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann Faik bleibt immer wieder auf der Strecke. Es ist schlicht zu wenig Zeit füreinander. Nicht nur ihr Sohn hält sie auf Trab, auch Samuel.

Ein wichtiger Teil von Samuels Leben sind, neben der Schwester, die Eltern. Der 32-Jährige wohnt teilweise bei ihnen. Bei der Geburt ihrer Kinder waren Rose-Marie und Emmanuel Bickit überrascht: «Diskordante Downsyndrom-Zwillinge» – ein äusserst seltenes Phänomen. In der Schweiz gibt es schätzungsweise eine Handvoll. Die Eltern kämpften bei den Behörden, dass auch Kinder mit Beeinträchtigung in eine Regelklasse können. Mit Erfolg: Samuel durfte in einen regulären Kindergarten. 

Inklusion: ein Menschenrecht

Was braucht es, um Menschen mit einer Behinderung wirklich miteinzubeziehen? Wo steht die Schweiz diesbezüglich? Die UNO hat im März 2022 geprüft, wie die Schweiz die Behindertenrechts-Konvention der UNO umsetzt. Fazit: Es besteht Handlungsbedarf. Im Wohnbereich zum Beispiel fokussiere man noch zu stark auf institutionelle Wohnformen.

Virginie Plüss-Bickit findet, in der Schweiz sei man zu vorsichtig punkto Inklusion: «Wir scheuen uns, etwas zu beginnen, weil wir nicht genau wissen, wohin die Reise geht. Dabei können wir jederzeit wieder Anpassungen machen. Wir sind soziale Wesen. Wir brauchen einander, die einen früher, die anderen etwas später. Inklusion ist eine Herzenseinstellung.»

Unterstützung wird Samuel immer brauchen. Obwohl er seinen Arbeitsweg allein bewältigen kann. Vier Tage pro Woche arbeitet er in Münsterlingen, in einer Stiftung im Gartenbereich. Sein Betreuer Börge Pietschmann steht dem Zusammenleben von Virginie und Samuel kritisch gegenüber: «Samuel ist ein erwachsener Mann. Er sollte eine Wohngruppe haben, ein eigenes Zuhause. Einen Ort, wo er mehr Abstand zur Familie hat.»

Öffentliche und private Hürden der Inklusion 

In der Schweiz gibt es immer noch rund 15’000 Menschen, welche wegen einer psychischen oder geistigen Behinderung kein Stimm- und Wahlrecht haben. In anderen europäischen Ländern wie Schweden, Frankreich und Grossbritannien dürfen Menschen mit Behinderungen wählen.

Oder auch beim Thema Selbstbestimmung in Sexualität, Intimität und Partnerschaft harzt es. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung haben dieselben Bedürfnisse nach Liebe, Partnerschaft, Sinnlichkeit und Sexualität wie alle Menschen. Die angemessene Begleitung und Unterstützung eines möglichst selbstbestimmten Liebes- und Sexuallebens kann für das Umfeld anspruchsvoll sein.   

Eine Erfahrung, die auch Virginie Plüss-Bickit und ihre Familie gemacht hat. Samuel hat vor kurzem eine Frau kennengelernt. Sie ist 60 Jahre alt. Ohne Beeinträchtigung. Genau nach Samuels Gusto. Er kann sich nur eine Partnerschaft mit einer Frau ohne Down-Syndrom vorstellen. 

Chancen und Grenzen der Inklusion  

In solchen Situation zeigt sich die Schwierigkeit, einen Weg zwischen Unterstützung und Selbständigkeit zu finden. Die aussergewöhnliche WG will auf diesem Weg bald einen weiteren Schritt gehen: Sie werden in ein Haus ziehen, in dem Samuel ein Zimmer mit Bad und eigenem Hauseingang hat. In dieser Konstellation soll es eine gesunde Mischung aus Nähe und Distanz geben, in der sich jeder und jede frei entwickeln kann.

Wie steht es um die Inklusion in der Schweiz?

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Islam Alijaj sitzt vor einer Dachschräge an einem Tisch mit einem geöffneten Laptop.
Legende: Ufuk Düzgün

Islam Alijaj ist Präsident des Vereins «Tatkraft», der Potenziale von Menschen mit Behinderungen fördert. Alijaj fordert ein Umdenken: Weg von der Fremdbestimmung, hin zur Selbstermächtigung.

Alijaj wurde mit Cerebralparese geboren – eine Bewegungsstörung, die seine Geh- und Sprechfähigkeiten beeinträchtigt. Er ist Vater zweier Kinder und ist seit Jahren politisch aktiv. Für sein Engagement wurde er 2021 für den «Prix Courage» nominiert.

SRF:  Wie beurteilen Sie die Situation der Inklusion in der Schweiz?
Islam Alijaj: Menschen mit Behinderung sind bei uns immer noch fremdbestimmt. Es fliesst sehr viel Geld (Anmerkung Redaktion: 2, 7 Milliarden Franken jährlich). Aber vor allem zu den Institutionen, nicht zu den Menschen mit Behinderung. Sie brauchen mehr direkte Unterstützung, damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können.

Wenn zum Beispiel ein Mensch mit Down-Syndrom genug Assistenz bekommt, ist es möglich, ein eigenständiges Leben zu führen. Sei es in einer Wohnung oder WG. Es braucht Unterstützung, keine Bevormundung. Wir können uns selber helfen, wenn man uns lässt. Menschen mit Behinderung leben häufig in Institutionen oder zu Hause bei ihren Familien. Eine freie Entwicklung ist dort kaum möglich.

Wie kann eine Gesellschaft Menschen mit Behinderung gerecht werden?
Es geht um echte Inklusion. Alle Menschen haben ein Recht, eigene Entscheidungen zu treffen. Wichtig ist es, dass man Personen Werkzeuge gibt, sie begleitet und unterstützt. Wenn ich zwanzig Jahre keine Meinung haben darf und über mich bestimmt wurde, kann man nicht erwarten, dass ich plötzlich eine Meinung und Kompetenzen habe. Viele Menschen mit Behinderung bekamen nie die Möglichkeit, richtig zu lernen, Entscheidungen für sich zu treffen. Obwohl sie das hätten lernen können, wenn man auf sie zugegangen wäre.

Wie weit soll jeder Mensch frei entscheiden können? Auch punkto Partner und Sexualität? 
Aus meiner Sicht ist das eine persönliche Entscheidung. Es ist übergriffig, wenn das Umfeld bestimmt. Wie soll ein Mensch lernen, Situationen einzuschätzen, wenn er keine Fehler machen darf? Menschen lernen im Babyalter, mit Fehlern umzugehen. Bei den ersten Schritten fallen wir hin, schlagen den Kopf auf, es tut weh. Ein Mensch muss Fehler machen. Bei Menschen mit Behinderung ist das in unserer Gesellschaft aber anders. Sie dürfen keine Fehler machen. Die Gesellschaft packt sie in Watte und versieht sie mit Richtlinien, dass sie ein hochqualitatives Leben führen können. Aber so lernt man nicht.

Wo sehen Sie Grenzen der Inklusion? Oder sind wir im Grunde grenzenlos? 
Wir müssen ein System bauen, das flexibel ist. Eines, das auf Bedürfnisse eingehen kann. Wir müssen risikofreudiger werden, im positiven Sinne. Jeder Mensch lebt in Phasen. In jeder hat er unterschiedliche Bedürfnisse. In der inklusiven Gesellschaft können diese befriedigt werden. Es ist kein starres Konstrukt. Aber das bedingt, dass man Wahlmöglichkeiten hat, seine Bedürfnisse immer wieder anpassen kann. Die Schweiz, die soviel Geld hat, hat das Potenzial, das umzusetzen. Kein anderes Land hat bessere Voraussetzungen für eine inklusive Gesellschaft als die Schweiz. Wir haben vier Landessprachen, Dörfer, Berge, Flüsse, verschiedene Kulturen. Wir sind im Grunde mega divers unterwegs. Warum trauen wir uns nicht, das auf die Politik, auf die Gesellschaft zu übertragen? Wir sollen mutiger werden, diese Diversität ausgiebiger zu gestalten. Selbstbestimmt.

SRF 1, Reporter, 15.06.2022, 21 Uhr

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