Der ESC ist queer – und massentauglich. Kulturwissenschaftlerin Christine Lötscher blickt in die Geschichte des Musikwettbewerbs und erläutert, wie die LGBTQIA+-Community das TV-Ereignis für ihre Anliegen nutzt.
SRF: Sie forschen zu Fankulturen beim Eurovision Song Contest. Wie werden Sie den ESC in der Schweiz verfolgen?
Christine Lötscher: Ich fahre nach Basel und schaue mir natürlich ein Public Viewing an. Mich interessiert am meisten die mediale Vermittlung.
Viele ESC-Fans sind in den sozialen Medien aktiv. Welche Praktiken beobachten Sie?
Das Video-Editing ist besonders auf Tiktok eine wichtige Fan-Praxis. Durch den Zusammenschnitt ikonischer Momente wird eine Geschichte erzählt und von anderen aufgegriffen. So entsteht ein Archiv, das auch queere Fans für ihre Anliegen nutzen.
Nemo ist nonbinär und hat im vergangenen Jahr beim ESC in Malmö triumphiert. War der ESC schon immer queer?
Der ESC hatte von Anfang an einen Hang zu Camp, zu Kitsch und Glitzer. Das sind ästhetische Formen, die in der queeren Community oder damals in der schwulen Szene auf ein grosses Interesse gestossen sind.
Trash und Kitsch, also all das, was nach den Regeln des guten Geschmacks nicht geht, wird zu etwas Faszinierendem gemacht und fordert heraus.
Was versteht man unter Camp?
Susan Sonntag hat den Begriff berühmt gemacht. Camp-Ästhetik meint die Verdrehung des schlechten Geschmacks in etwas Attraktives. Trash und Kitsch, also all das, was nach den Regeln des guten Geschmacks nicht geht, wird zu etwas Faszinierendem gemacht und fordert heraus.
Warum identifizieren sich viele queere Menschen damit?
In einem ästhetischen Sinne ist Queersein Camp. Man unterwirft sich nicht den Geschmacksurteilen einer bildungsbürgerlichen Mehrheit, sondern spielt ganz bewusst mit dem, was marginalisiert und ausgeschlossen ist.
Ein Wendepunkt war 1998, als die Transfrau Dana International für Israel den ESC gewann.
Welche Narrative entwickeln queere Fans rund um den ESC?
Mittlerweile gibt es viel Forschung, die zeigt, dass queere Fans die Geschichte des queeren ESC erzählen und verbreiten. Von Anfang an gab es schwule Sänger. Ein Wendepunkt war 1998, als die Trans-Frau Dana International für Israel den ESC gewann. 2014 war es Conchita Wurst, eine Dragqueen. Ich finde es spannend, dass viele Fans dieses Mainstream-Event sehr positiv darstellen, um die Sichtbarkeit für queere Menschen ideal zu nutzen.
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Bild 1 von 3. Conchita Wurst bei einem Auftritt im Pariser Varieté-Theater «Crazy Horse». 2014 gewann sie den ESC für Österreich. Auch 2025 wird sie während des ESC auftreten – am Basler Rheinufer. (10.11.2014). Bildquelle: IMAGO / ABACAPRESS.
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Bild 2 von 3. Malmö, 11. Mai 2024: Nemo gewinnt mit «The Code» das Finale der 68. Ausgabe des Eurovision Song Contest in Schweden. 2023 outete sich Nemo als nonbinär. Bildquelle: IMAGO / TT.
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Bild 3 von 3. Birmingham, 9. Mai 1998: Dana International aus Israel singt ihren Beitrag «Diva». Sie gewann als erste transidente Person den Eurovision Song Contest. International ist eine Ikone der queeren Bewegung in Israel und in Ägypten. Bildquelle: IMAGO / TT.
Es gibt dieses ikonische Foto von Nemos Sieg. Vor einer Schweizer Fahne hält Nemo die nonbinäre Flagge hoch. Spielerischer Nationalismus trifft auf queeren Aktivismus. Wie passt das zusammen?
In der Schweiz gibt es eine sehr lebendige queere Community. Gleichzeitig ist die Gesellschaft sehr konservativ geprägt. Nemo verkörpert die klare Botschaft, dass es in der Schweiz mehr als zwei Geschlechter braucht. Ich beobachte auch, dass jüngere Menschen die Schweiz trotz konservativer Familien- und Geschlechterpolitik als aufgeschlossenes Land erleben.
In der aktuellen weltpolitischen Lage erstarken Autokraten und ihre queerfeindliche Politik. Welches Potenzial kann der ESC haben?
Queere Fans zeigen: Es gibt noch Räume auf der Welt, wo US-Präsident Donald Trump oder Wladimir Putin nicht einfach Diversität verbieten können. Fans können zudem zeigen, dass Popkultur und Mainstream etwas extrem starkes sind, was sich nicht so leicht aushebeln lässt. Und es ist ein Raum, um Europa mitzugestalten: Wie denken Menschen über ihr kulturelles Leben nach?