Von Essstörungen über Suizidgedanken bis hin zu sexuellem Missbrauch: Nach zwei Jahren auf Sendung muss ich nicht mehr aktiv nach Gästen für meine Sendung «Rehmann S.O.S. – Sick of Silence» suchen. Ich bekomme eher zu viele Anfragen von psychisch und chronisch Erkrankten, im Schnitt eine E-Mail pro Tag. Sie alle wollen über ihr Leben reden, über das, was sie durchmachen.
Was im Vorfeld läuft
Ich wähle aus nach Alter – schliesslich macht SRF Virus Programm für junge Zielgruppen. Also sind vor allem Leute zwischen 18 und 35 dabei, plus minus.
Wenn jemand älter ist, muss es auch für Jüngere einen Mehrwert geben: Zum Beispiel litt ein Gast, der über 35 Jahre alt war, schon seit vielen Jahren an chronischen Schmerzen. Er erzählte, wie er mit der Zeit mit den Schmerzen umzugehen gelernt hat. So einen Erfahrungsschatz können Jüngere nicht haben, und deshalb wollte ich ihn unserem Publikum auf keinen Fall vorenthalten.
Ich beantworte jede Anfrage. Wenn nötig, bitte ich nach weiteren Informationen, stichwortartig, chronologisch. Passt alles und wurde das Thema nicht bereits behandelt, dann nenne ich ein Datum für den Besuch im Radiostudio Brunnenhof in Zürich.
Ein Vorgespräch zum Interview führe ich bewusst nicht, denn ich möchte im Vorfeld nicht zu viel wissen. Die Sendung ist in meinen Augen deshalb so spannend, weil ich die Schilderungen meiner Gäste so zum ersten Mal höre und spontan darauf reagiere.
Vor und nach der Aufzeichnung
Um genügend Ruhe zu haben, mache ich die Sendung abends, wenn fast keiner mehr in der Redaktion ist. Ich treffe meinen Gast um 18.30 Uhr und dann gibt es erst mal eine kleine private Führung durchs Gebäude. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt – aber nicht über das eigentliche Thema.
Natürlich erzähle ich auch von mir und meiner chronischen Darmkrankheit Colitis Ulcerosa. Ich gehe damit auch in meinen Sendungen offen um, rede darüber. Daher kennen mich meine Gäste und fühlen sich auf Augenhöhe. Oft sagen sie: «Ich trau mich nur, dir das zu erzählen, weil gesunde Menschen verstehen mich nicht.»
Um etwa 19 Uhr gehen wir ins Aufnahmestudio und ich schalte die Kameras ein. Mein Gast und ich sind unter uns, ungestört. Dann starte ich die Aufnahme. Als Radiomoderator mache ich gleichzeitig die ganze Technik.
Ich stelle den Gast vor. Seine Geschichte habe ich auf Papier vor mir, sie ist mein Leitfaden. In erster Linie lass ich ihn erzählen. Ich höre einfach zu und stelle Fragen, die mich interessieren.
Mir liegt viel daran, dass unser Gespräch authentisch ist. Deshalb führe ich es auf eine möglichst lockere, natürliche Art – trotz der Schwere der Thematik. Ich inszeniere nichts. Und natürlich wird es emotional, weil der Gast ja mit seinen persönlichen Erlebnissen, Schmerzen, Traumata sein Innerstes nach Aussen kehrt. Er weiss, es ist wichtig, Aspekte anzusprechen, die weh tun. Es geht darum, das Schweigen zu brechen.
Bevor die Sendung im Radio läuft oder ins Web gestellt wird, folgt noch der Schnitt. Es wäre zu heikel, live zu senden, weil der Gast vielleicht im Gespräch etwas sagt, zum Beispiel über die Eltern, was ihn dann belastet und er es deshalb nicht öffentlich machen möchte. So etwas schneide ich dann raus. Dem Gast soll es nach dem Interview besser gehen, nicht schlechter.
Wenn wir unsere Gäste schützen müssen
Es gibt jedoch auch Geschichten, die anonym erzählt werden. Als Schutz vor Stigmatisierung. Zum Beispiel, weil die Personen sexuellen Missbrauch erlebt, eine Straftat begangen oder mit sehr viel Schuld zu kämpfen haben. Für solche Fälle haben wir unsere Spin-off-Variante der Sendung:
Dafür erzählt mir die betroffene Person am Telefon eine Stunde lang aus ihrem Leben. Ich zeichne das auf und schneide es zu einem Monolog zusammen. Dann lassen wir alles von einer Schauspielerin nacherzählen, wortwörtlich, so wie es mir erzählt wurde. Den Namen der Betroffenen ändern wir natürlich jeweils, um ihre Anonymität zu wahren.
Der Sinn des Ganzen
Nach dem Gespräch sagen mir meine Gäste oft, sie seien glücklich. Ich fühle, da löst sich etwas, da passiert etwas in ihnen.
Die Schilderungen helfen aber auch den Zuschauerinnen und Zuhörern, die jetzt mit der gleichen oder einer ähnlichen Problematik zu kämpfen haben. So haben die tragischen Erlebnisse am Ende auch etwas Gutes. Die Sendung spendet eine Menge Trost – im Wissen, mit dem eigenen Schmerz nicht allein zu sein.