Herr W. ist 75 und seit ein paar Jahren wegen Depressionen bei einer Psychiaterin in Behandlung. Im letzten Winter war er in einem Tief und erhielt von der Ärztin Medikamente. In den anschliessenden Ferien im Ausland hat er sich gut erholt.
Umso grösser war der Schock, als er mit seiner Frau die angesammelte Post anschaute. Darin war ein Schreiben des forensischen Instituts Langenthal mit der Aufforderung, sich für die psychiatrische Begutachtung hinsichtlich der Fahreignung zu melden. Beigelegt ein Einzahlungsschein über 1600 Franken – zu begleichen im Voraus.
Meldung der Psychiaterin
Zuerst glaubten Herr W. und seine Frau noch, es handle sich um ein Versehen oder ein Missverständnis. Zwei Tage später folgte dann jedoch der eingeschriebene Brief des Strassenverkehrsamtes: Vorsorglicher Entzug des Führerausweises.
Im Schreiben heisst es weiter, dass das Amt eine ärztliche Meldung erhalten habe mit der Bitte, die Fahrfähigkeit von Herrn W. zu überprüfen. Nun dämmerte es dem Ehepaar W.: Die Psychiaterin muss eine Meldung gemacht haben.
«Wir sind uns entmündigt vorgekommen»
Wie die Ehefrau gegenüber «Espresso» erzählt, seien sie und ihr Mann über das Verhalten der Vertrauensärztin sehr enttäuscht: «Es mag sein, dass die Psychiaterin verpflichtet ist, eine solche Meldung zu machen. Dass sie mit uns aber darüber nicht gesprochen hat, ist verletzend. Sie hätte meinen Mann doch informieren können!»
FMH empfiehlt immer Patienteninformation
So sieht es auch der Dachverband der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz, die FMH. Christine Romann ist Fachärztin für Psychiatrie und Vorstandsmitglied der FMH. Sie sagt gegenüber «Espresso»: «Aus Sicht der FMH sollte ein Arzt grundsätzlich das Gespräch mit dem Patienten suchen und seine Zweifel mitteilen.
Möglicherweise gibt ein Patient den Führerausweis dann sogar freiwillig ab. Es braucht ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Dieses kann enormen Schaden nehmen, wenn ein Arzt dem Patienten nicht mitteilt, dass er eine Meldung macht.»
Untersuchung beim Verkehrsmediziner
Wenn eine teure Fahreignungsabklärung in die Wege geleitet wird, kommen Verkehrsmediziner, meist an einem Institut für Rechtsmedizin, zum Zug. Bruno Liniger ist stellvertretender Abteilungsleiter der Verkehrsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich.
Gerade ältere Menschen mit möglicher beginnender Demenz müssten zuerst verschiedene Tests absolvieren, um ihre Fähigkeiten abzuschätzen. «Zuerst machen wir drei Kurztests. Dabei geht es um kognitive Fähigkeiten wie Konzentration, räumliche, zeitliche Orientierung, Rechenfähigkeit und Gedächtnis.»
Aufgrund dieser Ergebnisse wird dann entschieden, ob es noch weitere Abklärungen braucht. Häufig komme es dann auch zu einer sogenannt ärztlich begleiteten Kontrollfahrt. «Während einer Stunde fährt der Proband in seinem eigenen Auto, zusammen mit einem erfahrenen Experten des Strassenverkehrsamtes und einem Verkehrsmediziner.»
Beschränkung des Führerausweises
Nach den verkehrsmedizinischen Abklärungen entscheiden Fachleute des Strassenverkehrsamtes über einen möglichen Entzug des Fahrausweises. Es gibt aber auch die Möglichkeit, den Führerausweis zu beschränken. Das heisst für den Autofahrer, dass er zum Beispiel nur noch bei Tageslicht fahren darf, oder nur noch automatisch geschaltete Fahrzeuge, oder auch, dass er nur noch in seiner direkten Umgebung fahren darf. Wie es beim Bundesamt für Strassen auf Anfrage von «Espresso» heisst, besteht die Möglichkeit dieser differenzierten Beschränkung des Fahrausweises, sie werde aber relativ selten angewendet.