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«Kassensturz»-Spezial Scheinselbständigkeit: So unfair lagern Betriebe ihr Risiko aus

Immer mehr Unternehmen lagern das Geschäftsrisiko an die Mitarbeiter aus. Der Kurierdienst DHL etwa arbeitet mit angeblich selbständigen Kurieren zusammen. Diese aber sind auf Gedeih und Verderb von DHL abhängig. «Wir sind moderne Sklaven», klagen die Betroffenen im «Kassensturz».

«Ich arbeite zwölfeinhalb Stunden, jeden Tag. Das ist bei uns die normale Arbeitszeit», klagt der Kurierfahrer von DHL. «Kassensturz» trifft den Chauffeur nach Feierabend auf einem Parkplatz.

Im Schutz der Dunkelheit ist er bereit, von seiner Arbeit zu erzählen. Der Druck bei DHL sei unerträglich, schildert er. Die Kuriere würden auch kaum Pausen machen. «Also mit einer Pause arbeitest du dann 13 Stunden».

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Der Kurier arbeitet im Auftrag von DHL. Das heisst: Er ist nicht angestellt, sondern selbstständiger Unternehmer mit eigenem Fahrzeug. So wie viele andere auch, die für DHL Pakete ausliefern.

Doch DHL diktiere seinen Alltag, sagt der Kurierfahrer. Er zeigt «Kassensturz» vertrauliche Dokumente. Zum Beispiel die Tagesrapporte. Jeden Tag muss er seine Arbeitszeit und die Paket-Auslieferungen in einem DHL-Formular notieren. Immer am Abend muss er den Rapport im Depot abgeben.

Keine Rechte, dafür viele Pflichten

DHL schreibe ihm fast alles vor. Und tatsächlich: Im Frachtführer-Vertrag ist alles festgehalten: Wann er wo beginnen muss. Und was er alles zu erledigen hat. DHL schreibt ihm weiter Fahrzeug und Ausrüstung vor. Obwohl er selbständiger Unternehmer ist, muss er in der Uniform von DHL arbeiten.

Der Kurier fühlt sich ausgenutzt: «Wir sind die modernen Sklaven!». Vieles müssten sie selber organisieren: «Wir müssen selber den Bus leasen, den Diesel bezahlen und jeden Schaden müssen wir selber reparieren», klagt der Kurier. «Wir haben kein einziges Recht gegenüber DHL. Wir haben nur Pflichten».

Scheinselbstständigkeit statt Selbstständigkeit

Sind die Kuriere tatsächlich selbstständige Unternehmer? «Kassensturz» zeigt die Dokumente, Roger Rudolph, Anwalt und Experte für Arbeitsrecht. Ihm fällt auf, wie viel DHL den Kurieren diktiert. Zudem würden die Fahrer ausschliesslich für DHL arbeiten.

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«Die Kuriere sind sehr stark abhängig vom Auftraggeber. Sie müssen sehr detailliert Weisungen befolgen und dürfen ohne Zustimmung von DHL keine Aufträge für Dritte annehmen. Sie müssen sehr detailliert die Arbeitszeiten abrechnen.»

In diesem Zusammenhang könne man von einer Scheinselbstständigkeit sprechen, kritisiert Rechtsanwalt Roger Rudolph. «Das heisst, es ist eine Tätigkeit im Angestelltenverhältnis.»

DHL weist Vorwürfe zurück

Michael Jutzi, Geschäftsleitungsmitglied von DHL, betont: Man habe bei DHL einerseits festangestellte Mitarbeiter. Dort komme DHL sämtlichen arbeitsrechtlichen Auflagen nach.

Auf der anderen Seite vergebe DHL Touren auch an Subunternehmer. Seit rund 20 Jahren habe sich dieses zweigleisige Modell bewährt und es werde auch in Zukunft so bleiben, sagt Michael Jutzi.

Den Vorwurf der Scheinselbstständigkeit lässt Jutzi nicht gelten. Man habe diese Frage mehrmals juristisch abklären lassen. «Zurückliegende juristische Reviews unserer Subunternehmer-Verträge haben uns attestiert, dass wir nach ständiger Rechtsprechung der Gerichte vor dem Vorwurf der Scheinselbständigkeit sicher sind.»

Man werde nun aber die Bedingungen und Verträge der Subunternehmer nochmals prüfen und allenfalls anpassen, verspricht Michael Jutzi von DHL.

Arbeitszeit startet erst beim Kunden

Zu den vom Chauffeur kritisierten langen Arbeitszeiten schreibt DHL: Man würde die Zustelltouren periodisch prüfen und dabei eine durchschnittliche Zeit von 8 bis 8,5 Stunden pro Tour messen.

«Kassensturz» weiss allerdings von mehreren Chauffeuren: DHL misst die Touren erst ab dem Zeitpunkt der ersten Paketlieferung beim Kunden. Das Sortieren im Depot, Beladen des Autos, sowie die Hinfahrt zum ersten Kunden würden nicht angerechnet, klagen die Chauffeure.

Am Ende bleibt als Lohn nicht viel übrig

Risiken und Kosten lagere DHL bewusst aus, klagt der Kurier. Er werde pro Paket und pro Stopp bezahlt. Im Schnitt erhalte er von DHL rund 10‘000 Franken im Monat. Eigentlich viel Geld. Doch der Kurier rechnet vor, wie viel ihm davon nach Abzug aller Fixkosten übrig bleibt: So muss er AHV, Pensionskasse, Mehrwertsteuer, Versicherungen, Leasing und Treibstoff selber bezahlen.

Am Ende blieben ihm nur noch 3200 Franken übrig. «Ich bin abhängig vom Geld, das ich investiert habe». Rund 30‘000 Franken habe er aufgewendet. Er stehe jeden Morgen auf mit der Hoffnung, dieses Geld bald abzahlen zu können. «Doch ich stecke immer in Schulden und Verlusten.»

Die Fixkosten der Subunternehmer würden variieren, sagt DHL. Man werde aber die einzelnen Aufträge und Vergütungen in diesem Jahr überprüfen.

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