Alice Kirchhofer ist 88 Jahre alt. Sie leidet an Alzheimer. «Man erzählt ihr etwas, zehn Sekunden später ist das weg», sagt ihre Tochter Rita Kirchhofer. Deshalb lässt sich nicht mehr feststellen, wie es ein Telefonverkäufer geschafft hat, der kranken Frau ein überteuertes Vitaminpräparat anzudrehen: ein Saft mit Vitaminen und Mineralstoffen. Acht Flaschen hat Rita Kirchhofer bei ihrer Mutter gefunden. Zwei Flaschen kosten 119 Franken. «Ich finde das fast schon kriminell», sagt die Tochter.
Überrissener Preis
119 Franken für einen Liter Vitaminsaft? «Kassensturz» fragt bei der Pilger Apotheke in Basel nach. Sie führt das grösste Arzneimittelsortiment der Nordwestschweiz. Für Apotheker Reto Rup scheint der Preis überrissen: «So teure Präparate führen wir gar nicht in unsere Apotheke. Ein vergleichbares Mittel würde bei uns einen Bruchteil kosten», sagt er. «Kassensturz» findet Präparate mit mehr Vitaminen für ein Zehntel des Preises.
Vertrieben wird der Saft über ein Callcenter der Versandgroup Holding. Die Versandgroup gehört zu einem Dutzend teils suspekter Firmen. Diese handeln immer wieder mit praktisch nutzlosen Produkten. Die Produkte drehen Verkäufer Konsumenten zu manchmal unverschämten Preisen an. Vor vier Jahren berichtete «Kassensturz» über die Vita Confort. Sie verkaufte älteren Menschen nutzlose Rheumageräte für 5000 Franken. Die Firma findet heute mit anderen Geräten neue Opfer. Oder: Aufsässige Telefonverkäufer der Firma Phoneline verschickten Milbenmittel für 117 Franken – viel Geld für eine Seifenlösung mit Konservierungsstoffen drin.
Sehr kontaktscheu
Die Chefs der Schweiz weit operierenden Verkäufer-Truppe sind Marc René Crausaz aus Wollerau (SZ) und Roland de Vallier aus Rheineck (SG). In Internetforen wird von den Abzockern gewarnt. Doch das Duo hat oft Senioren im Visier, die sich nicht so schnell informieren können. Phytobiol soll «mehrere Monate ohne Unterbrechung» eingenommen werden. Literpreis: 119 Franken. Wer die empfohlene Tagesdosis schluckt, gibt jeden Tag 5 Franken aus. Rita Kirchhofer: «Ich sehe nicht ein, weshalb man einen solchen Typen nicht irgendeinmal vor Gericht ziehen und seine Firmen schliessen kann.»
Seit 4 Jahren wollen «Kassensturz»-Reporter die Chefs der Firmen befragen. Die Herren belästigen mit ihren Telefon-Verkaufstruppen täglich Dutzende Konsumenten. Sie selbst sind äusserst kontaktscheu. «Kassensturz» geht bei diversen Tochterfirmen in St. Gallen, Zürich, Luzern, Rapperswil, Wangen an der Aare vorbei – vergeblich. Roland De Vallier sucht «Kassensturz» auch an seinem Wohnort in Rheineck am Bodensee. Er ist nicht zu Hause.
Dubiose Büros
Nur ein paar Kilometer weiter liegt Wienacht-Tobel (AR). Dort ist der Hauptsitz der Versandgroup Holding. Auf dem Briefkasten – zuunterst – steht die Versandgroup korrekt angeschrieben. Mit ein paar anderen Briefkastenfirmen, die nichts mit der Versandgroup zu tun haben. Margot Salathé, die seit 33 Jahren im Haus wohnt, hegt Zweifel am Firmensitz: «Ich sehe nie jemanden. Ich weiss überhaupt nicht, was hier drinnen läuft. Also mir kommt es ein wenig dubios vor.» Hinter der Eingangstüre hat es keine richtigen Büros, sondern lediglich ein kleiner Raum mit einem Tisch, einem Stuhl, einem Sofa und einem Telefon.
Dann überrascht «Kassensturz» Roland de Vallier in Zug. Doch er will zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen. Roland de Vallier mimt den freundlichen Geschäftsmann, wünscht den Reportern einen schönen Tag und macht sich mit einem 120‘000-fränkigen BMW davon.
Bundesrat handelt
Roland De Vallier ist zusammen mit Marc René Crausaz Chef diverser umstrittener Versandfirmen und Callcenter. Die Verkaufsgespräche dieser Firmen finden per Telefon – also mündlich – statt. Kunden müssen später nachweisen, wie sie über den Tisch gezogen worden sind. Für einzelne Konsumenten eine schwierige Beweislage.
Das Problem ist beim zuständigen Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) bekannt. Erst bei einer Vielzahl paralleler Fälle sei es möglich, eine Unlauterkeit nachzuweisen. «Das will der Bundesrat korrigieren. Künftig soll in solchen Fällen der Bund anstelle der Geschädigten klagen können», sagt Gudio Sutter vom Seco. Darum soll das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb revidiert werden. Es wird anfangs 2010 im Parlament behandelt.