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Ärztegutachten: Im Zweifel gegen den Patienten
Aus Kassensturz vom 20.04.2010.
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Gesundheit Ärztegutachten: Im Zweifel gegen den Patienten

Medizinische Gutachten entscheiden, ob Patienten bei Unfall oder Krankheit Versicherungsleistung erhalten. Doch diese Gutachten seien oft nicht unabhängig, kritisieren Experten. «Kassensturz»-Recherchen beweisen: Ein grosses Institut hat Gutachten abgeändert – zu Ungunsten der Patienten.

Florian Küttel hatte vor 19 Jahren einen brutalen Velounfall. Er knallte mit dem Schädel auf die Windschutzscheibe eines Autos. Folgen: Schädelbruch, Hirnquetschung, schweres Schädel-Hirntrauma. Seither muss er mit einer Plastikplatte im Kopf leben. Zudem hat sich sein Fuss verformt – vermutlich als Spätfolge des Unfalls. Mit zehn Schrauben haben Chirurgen den Fuss zurück in die gerade Form versteift.

Auch von den Hirnverletzungen bleiben Schäden: Extreme Kopfschmerzen, Depressionen, dauernde Müdigkeit. Küttel kann kaum mehr arbeiten. Anders sieht es ein ärztliches Begutachtungsinstitut. Nach dem Studium der Akten und einer Untersuchung kommen die Gutachter zum Befund: Der kranke Fuss würde zwar die Arbeitsfähigkeit einschränken, sonst aber könne Küttel arbeiten.

Professor Jon Largiadère hat Küttel operiert. Die Gutachten kennt er nicht. Aber er kennt seinen damaligen Patienten. Er weiss: Solche Kopfverletzungen können sich auch nach Jahren auf die Psyche auswirken und zu massiven Problemen führen. Jon Largiadère: «Er ist kurze Zeit nach der Operation wieder nach Hause, aber er klagte bereits wegen starken Kopfschmerzen, die er vorher nie gehabt hat.» Die Situation habe sich verschlimmert. Konzentrationsschwächen, schulische Leistung, alles sei bergab gegangen.

Neutrale Gutachten?

Zu Florian Küttels Gesundheit gibt es viele Gutachten. Bis vor einem Jahr war er 50 Prozent arbeitsunfähig geschrieben. Doch jetzt kommt ein weiteres Institut zu einem anderen Schluss. Küttel ist plötzlich 100 Prozent arbeitsfähig. Deshalb streicht im die IV die Unterstützung.

Für Versicherte sind ärztliche Gutachten entscheidend. Denn Gutachten nehmen praktisch vorweg, ob und wie viel Rente sie erhalten – zum Beispiel von der IV. Bei komplizierten Fällen schickt die IV einen Patienten zu einer medizinischen Abklärungsstelle, kurz Medas. Medas-Stellen haben eine ähnliche Funktion wie ein Gericht. Deshalb müssen sie auch genau so unabhängig sein.

Entscheidende Frage: Sind diese Medas-Stellen tatsächlich neutral? Nein, sagt eine brisante Studie, mitverfasst vom renommierten Staatsrechtsprofessor Jörg Paul Müller. Klare Aussage: Die gegenwärtige Praxis widerspreche dem Recht auf ein faires Verfahren. Jörg Paul Müller: «Die Medas-Ärzte stehen sozusagen in einem Anstellungsverhältnis zum Bundesamt für Sozialversicherung und können vom Amt für Sozialversicherung eine Kündigung erhalten. Das hat zur Folge, dass die Ärzte nicht voll unabhängig sind.»

Noch schlimmer: IV und Gerichte neigen dazu, diese Gutachen als über alle Zweifel erhaben anzuschauen. Beim Bundesamt für Sozialversicherungen beruhigt man. Die Unabhängigkeit sei gewährleistet, sagt der BSV-Direktor Yves Rossier. «Zum Inhalt des Gutachtens geben wir keine Vorgaben. Das würde eben gegen die Unabhängigkeit der Ärzte sein.»

Heikle Abhängigkeit

Das Begutachtungsinstitut ABI in Basel ist die grösste Medas-Stelle in der Schweiz. 80 Prozent der Aufträge erhält das ABI von der IV. Eine heikle Abhängigkeit. Die Medas-Stelle ABI beauftragt Fachärzte, den Patienten zu untersuchen. Diese Spezialisten schreiben ein Untergutachten. Diese Untergutachten fügt das ABI wie – alle Medas-Stellen – zu einem Schlussgutachten zusammen und schickt es der Versicherung. Die Versicherungen folgen in den allermeisten Fällen der Einschätzung der Medas-Stellen.

Doch ausgerechnet in diesem sensiblen Bereich wies «Kassensturz» vor dreieinhalb Jahren dem ABI Ungereimtheiten nach. Der Vorwurf: Es ändere Gutachten ohne Rücksprache mit den Gutachtern ab. Eine Frau erhielt nach einem schlimmen Autounfall eine IV-Rente. Dann musste sie zum ABI. Dort kam es zu seltsamen Abweichungen: Denn das Schlussgutachten des ABI stimmte plötzlich nicht mit dem Untergutachten des Arztes überein. Als Folge erhält die Frau von den Versicherungen kein Geld mehr. Ein Verlust von mehreren hunderttausend Franken. Kein Einzelfall: Kassensturz kennt 21 weitere Beispiele.

Keine Rücksprache mit Teilgutachtern

Abändern der Teilgutachten ohne Rücksprache mit den Gutachtern: Im «Kassensturz»-Studio nahm der Chef des ABI, Simon Lauper, Stellung. Geschlagene neun Minuten lang drückte sich der Chef des ABI um klare Antworten. Inzwischen gelangte einer der «Kassensturz»-Fälle ans Bundesverwaltungsgericht. Es bestätigte: Es gab keine Rücksprache.

Dass damals beim ABI etwas schief gelaufen ist, hatte der Anwalt Markus Schmid publik gemacht. «Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass ohne Rücksprache mit den Teilgutachtern deren Gutachten abgeändert worden sind.» Zudem sei die Einschätzung des Untergutachters laut Gericht «in keiner Weise berücksichtigt» und er nicht über die Abänderung in Teilgutachten informiert worden. Folge: «Das Gutachten ist kein gültiges Gutachten», sagt Markus Schmid.

Das ABI bestreitet nach wie vor alle Vorwürfe. Über einen Monat lang bemühte sich «Kassensturz» um eine Stellungnahme. Am 20. April 2010 hat das ABI dann plötzlich sämtliche schriftliche Stellungnahmen zurückgezogen. Offiziell begründet dies das ABI unter anderem mit einem Rechtsstreit, der seit dem Beitrag vor dreieinhalb Jahren zwischen dem ABI und dem «Kassensturz» läuft.

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