Jede Woche muss Paul Sahli zur Spezialtherapie. Sie lindert sein Leiden wenigstens vorübergehend. Doch die Schmerzen sind praktisch allgegenwärtig. Besonders schlimm ist es in der Nacht, wenn sich der Mann von einer Seite auf die andere wälzt und nur ein paar wenige Stunden Schlaf findet. Sahli: «Das ist jede Nacht so seit dem Unfall. Ich habe während Wochen nie eine Stunde am Stück geschlafen.»
Höchstleistung trotz Wirbelsäulen-Missbildung
Paul Sahlis Wirbelsäule ist massiv verkrümmt – eine sogenannte Skoliose. Ärzte bezeichnen ihn als medizinisches Wunder: Viele Menschen mit einer solchen Wirbelsäule wären längst invalid und Rentenbezüger. Doch nicht Paul Sahli. Der heute 64jährige hat ein Leben lang trainiert, um mit seinem schwierigen Rücken zurechtzukommen. Mit Erfolg: Der Mann aus Lostorf hat unzählige Spitzenleistung erbracht: Er ist der aktuelle Weltmeister im Fussball-Jonglieren – 14 Stunden nonstop, 94 000 Ballberührungen, ohne dass der Ball jemals zu Boden fiel.
Er hat auch mit einem drei Kilogramm schweren Medizinball jongliert – mehr als eine Stunde lang. Er hat insgesamt 66 Eintragungen im Buch der Rekorde, war mehrmals zu Gast in der Sendung «Wetten dass…» und in ähnlichen Shows auf der ganzen Welt – mehr als einmal stieg er jonglierend rückwärts eine 30 Meter hohe Feuerwehrleiter hoch.
Ein Leben lang hart gearbeitet
Doch damit nicht genug: Paul Sahli hat ein Leben lang voll gearbeitet. Zuletzt bei den SBB in den industriellen Werken Olten. Dort war er Lagerist im Ersatzteillager. Zu seinen Arbeiten gehörte das Umladen von schweren Stossdämpfern. Laut Arbeitskollegen hat Sahli dies immer problemlos und ohne sich zu beschweren geschafft. Noch am Tag vor seinem Unfall arbeitete er im zweiten Untergeschoss des SBB-Betriebs.
Doch dann geschah das Unglück – am 31. Juli 2009. Sahli war auf der Autobahn unterwegs Richtung Sargans. Er war der hinterste in einer stehenden Kolonne an einer Baustelle, als ein Lieferwagen mit rund 100 km/h – das bestätigt ein Gutachten – auf seinen Opel Corsa auffuhr.
Als Familienernährer fällt er aus
Seither leidet er unter den Schmerzen, die nicht mehr weg gehen wollen. Mit dem Jonglieren ist es vorbei. Und auch arbeiten darf Paul Sahli nicht mehr. Weil aus diesem Grund sein Einkommen nun nur noch gut die Hälfte beträgt, muss Sahlis pensionierte Frau wieder zur Arbeit. Daran hat er besonders zu beissen: «Ich wollte bis 65 arbeiten. Es war mir wichtig, dass ich meine Familie ernähren kann. Das hat man mir weggenommen – und ich kann nichts dafür. Ich würde heute noch jeden Tag arbeiten gehen und ganz sicher ohne Schmerzen.»
Für die IV ist der Fall klar: Paul Sahli wird nach diesem Unfall nie mehr arbeiten können. Er erhält eine ganze Invalidenrente. Doch das sind nur 1‘600 Franken. Dazu kommt eine kleine Rente seiner Pensionskasse. Zum Leben reicht das nicht.
Zynische und nicht fundierte Begründung
Normalerweise zahlt bei Nicht-Berufs-Unfällen von Arbeitnehmern der gesetzliche Unfallversicherer Heilungskosten und Verdienstausfall. Als Arbeitnehmer hat Paul Sahli jahrzehntelang Suva-Prämien bezahlt. Doch die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt stellte nach einem Jahr ihre Zahlungen ein. Ihre Begründung: Zu diesem Zeitpunkt wäre Sahli ohnehin invalid geworden. Auch ohne Unfall. Dies entspreche einer medizinischen Erfahrungstatsache.
Der renommierte Berner Wirbelsäulenspezialist und Professor Max Aebi findet diese Argumentation hanebüchen. Er hat Paul Sahli untersucht. Für ihn ist klar: Der Zusammenstoss hat das Unfallopfer, das mit viel Disziplin und Training fast 60 Jahre ein normales Leben führte, aus seinem körperlichen Gleichgewicht geworfen. Auch wenn das auf dem Röntgenbild nicht sichtbar ist. Aebi: «Was die Suva sagt, ist eine absolute Behauptung. Es ist wissenschaftlich nicht fundiert und auch nicht mit Daten belegt. Sahli hat 60 Jahre Zeit gehabt, einen schlechten Zustand zu erreichen. Doch er hat sich gut aufrecht erhalten.»
Versicherungsfälle als Massengeschäft
Wenn die Suva nicht mehr zahlen will, müsste sie beweisen, dass der Unfall nicht Ursache der Beschwerden ist. Doch das tue sie nicht, sagt Hardy Landolt, Rechtsanwalt und Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität SG. Er betrachtet den Fall Sahli als typisches Beispiel für das Massengeschäft im Sozialversicherungsrecht. Die Betroffenen würden oft im Schnellverfahren abgefertigt. In den Entscheiden stosse man immer wieder auf dieselben stereotypen Begründungen.
Hardy Landolt hat die Argumentation des Unfallversicherers für «Kassensturz» unter die Lupe genommen. Für die Antwort auf die Frage, ob der Entscheid der Suva unhaltbar sei, reichen ihm genau vier Worte: «Ja, das ist so.»
SUVA nimmt keine Stellung
Am 10. Mai wird sich das Sozialversicherungsgericht Solothurn mit dem Fall befassen. Sahlis Anwalt hat Beschwerde eingereicht und eine öffentliche Verhandlung verlangt. Die Suva hüllt sich bis dahin in Schweigen. Sie hat den Fragenkatalog des «Kassensturz» unbeantwortet gelassen und dankend auf ein Interview im Studio verzichtet.
Ihre Antwort per Mail umfasst zwei Sätze: «Da wir zu laufenden Gerichtsverfahren grundsätzlich keine Stellung nehmen, kann ich Ihre Fragen leider nicht beantworten. Ebenfalls müssen wir aus demselben Grund die Einladung in Ihre Sendung ausschlagen.»