Alle drei Tage wechselt Martin Weber aus dem aargauischen Wittwil sein Morphinpflaster. Er braucht die Schmerzmittel. Ein unverschuldeter Motorradunfall vor fünfzehn Jahren schädigte seine Halswirbel dauerhaft. Drei Mal wurde er operiert, er unterzog sich verschiedenen Therapien, doch die Schmerzen blieben.
Der ehemalige Chauffeur bekommt deswegen eine Teilrente der IV und seit über vier Jahren Ergänzungsleistungen. Als der Familienvater anfangs Jahr einen Brief der Sozialversicherungsanstalt Aargau öffnete, traf ihn der Schlag: «In diesem Schreiben stand, ich müsste 29'500 Franken innert 30 Tagen retour bezahlen.»
Für Laie zu kompliziert
Der Grund für die Rückforderung: Die Aargauer Behörde hat während vier Jahren vergessen, Einnahmen anderer Versicherungsleistungen anzurechnen und Martin Weber durchschnittlich 600 Franken im Monat zu viel ausbezahlt. Insgesamt 29'500 Franken. Weber hätte das bemerken müssen, schreibt die Kasse.
Dieser Fehler der Behörde sei für jemand wie Martin Weber gar nicht zu erkennen, sagt Sozialversicherungsexperte Ueli Kieser. Ein Laie, der diese vielen Seiten mit diesen vielen Zahlen bekomme, könne nicht merken, dass die Ausgleichskasse einen Fehler gemacht habe der nicht auf den allerersten Blick zu sehen sei. «Wenn man die Unterlagen durchsieht – und ich habe sie durchgesehen – sieht man den Fehler nicht.»
Immer wieder ändernde Beträge
Wegen seines Rückenleidens darf Weber nur drei Stunden pro Tag arbeiten. Mit dem Versand von Bowlingzubehör verdient er etwas zu seiner 65-Prozent-IV-Rente dazu. Diese Arbeit kann er selbst einteilen. Bei der Buchhaltung hilft ihm jemand. Abrechnungen sind nicht seine Stärke. «Ich als Laie kann diese Zahlen unmöglich kontrollieren, ein solcher Berg Zahlen. Und rund alle zwei Monate kam eine neue Verfügung mit neuen Zahlen.»
Mit fast jeder Abrechnung ändern sich die Beträge. Das unregelmässige Nebeneinkommen und ändernde Familienverhältnisse erschweren die Übersicht. Mal sind es monatlich 800 Franken Ergänzungsleistungen mal sind es 1200 Franken.
An Rechtsprechung gebunden
Weber stellte bei der Behörde den Antrag, ihm die Rückforderung zu erlassen. Die Aargauer Sozialversicherung lehnte dies ab und schreibt «Kassensturz»: Sie sei an die geltende Rechtsprechung gebunden. Diese würde für alle gleich umgesetzt, auch wenn sie im Einzelfall hart sei. Auch ein Laie könne einen solchen klaren Fehler bemerken.
Dem widerspricht Rechtsanwalt Ueli Kieser. Zudem befände sich Weber in finanziell schwieriger Lage. Deshalb wäre die Grundlage für einen Erlass gegeben. «Die Kasse hat durchaus die Möglichkeit von sich aus zu entscheiden, ob jemand gutgläubig war. Es gibt keine Richtlinien, die man blindlings umsetzen muss.»
Entscheid ist korrekt
Die Aufsicht über die kantonalen Ausgleichskassen übt das Bundesamt für Sozialversicherung aus. Rolf Camenzind erklärt: Solange der Entscheid im gesetzlichen Rahmen liege, könne der Bund ihn nicht ändern. «Der Entscheid der SVA Aargau ist wahrscheinlich streng, aber er ist korrekt.»
Martin Weber hat keine Ersparnisse. Die Sozialversicherungsbehörde zieht ihm nun von den Ergänzungsleistungen monatlich rund 250 Franken ab. Zusätzlich zahlt er Familienunterhalt. Ihm bleibt das Existenzminimum zum Leben. «Zehn Jahre müsste ich dran sein, bis ich schlussendlich alles zurückbezahlt hätte. Das ist hart für mich.»
Wie Recherchen von «Kassensturz» nun ergeben haben, dürfen Rückzahlungen wegen der Vollstreckungsverjährung nur während fünf Jahren verlangt werden. Das heisst: Martin Weber muss jetzt während fünf Jahren so viel zurückzahlen, wie es für ihn gemäss Existenzminimum möglich ist. Danach ist er von der Zahlung befreit.