Felix Degen ist Jet-Pilot bei der Rega und passionierter Marathon-Läufer. Im Frühjahr 2006 beendete ein Muskelriss an der Wade seine Lauf-Saison abrupt. Es geschah auf der Treppe des Rega-Jets, vor einem Flug-Einsatz. Felix Degen: «Ich stieg die Treppe runter. Vom zweituntersten Tritt sprang ich dann. Dabei merkte ich eine Art Elektroschock in der Wade. Und als ich unten landete, konnte ich nicht mehr abrollen.»
Ungewöhnliche Umstände ...
Felix Degen meldet den Vorfall seiner Unfallversicherung, der Suva. Doch diese lehnt eine Kostenübernahme ab. Seine Krankenkasse solle die Arztkosten übernehmen. Nachteil für Felix Degen: Nun muss er 800 Franken Franchise und Selbstbehalt zahlen. Nur weil laut Suva ein unfallähnliches Ereignis gar nicht stattgefunden habe. Die Suva schreibt dazu: «Gemäss der glaubwürdigen schriftlichen Erstbefragung von Herrn Degen handelte es sich beim Verlassen des Flugzeugs um eine übliche Tätigkeit.»
Tausenden geht es jedes Jahr gleich wie Felix Degen: Die Unfallversicherer schieben immer öfter Fälle an die Krankenkassen ab. Sie begründen dies mit dem Gesetz: Ein Unfall ist nämlich erst dann ein Unfall, wenn er plötzlich und unbeabsichtigt schädigend ist. Die Umstände müssen ungewöhnlich sein. Doch: Wann sind die Umstände ungewöhnlich?
Beispiel Putsch-Autos: Bis vor kurzem galten die Unfallfolgen rechtlich als Krankheit, weil Zusammenstösse ja gewollt seien. Oder ist eine Verletzung des Reiters ein Unfall oder eine Krankheit? Manchmal entscheiden absurde Details darüber, ob ein Unfall anerkannt wird oder nicht, sagt Patientenrechtler Ueli Kieser. «Wenn das Ross gestolpert ist, ist es kein Unfall. Allerdings: Wenn es eingeknickt ist, ist es ein Unfall.» Eine Formulierungsfrage, die laut Kieser keinen Sinn ergebe und längst überholt sei.
Tausende Franken Unterschied
Unfall oder Krankheit: Für Patienten ist dies entscheidend. Denn bei Krankheit stehen sie finanziell schlechter da. Der Unterschied kann viele tausend Franken betragen. Schiebt eine Unfallversicherung den Fall an die Krankenkasse ab, muss der Patient Selbstbehalt und Franchise bezahlen. Eine Krankentaggeldversicherung ist nicht obligatorisch. Ohne sie erhält er eine Lohnfortzahlung von nur maximal sechs Monaten. Eine eventuelle Rente von der IV bekommt er frühestens nach einem Jahr Arbeitsunfähigkeit.
Auch Ergotherapeutin Doris Brunner hat schlechte Erfahrungen gemacht mit ihrer Unfallversicherung. Sie hatte weder Rücken- noch Nackenprobleme – bis im Mai vor zwei Jahren, als sie zusammen mit einer Helferin einen Patienten heben musste. Ihre damalige Helferin liess den Patienten unvermittelt los. Das ganze Gewicht musste Doris Brunner plötzlich alleine tragen. Sie spürte einen Schlag in der Halswirbelsäule und merkte, dass etwas gerissen ist. Brunner war sofort klar: «Mir ist ein Unfall passiert.»
Die Unfallversicherung der Stadt Zürich bezahlte die ersten Arztrechnungen. Doch nach neun Monaten stellte sie die Zahlungen unerwartet ein. Die Versicherung schreibt: «Im vorliegenden Fall ergab die medizinische Beurteilung, dass ein Anhalten der Beschwerden nicht mehr in einen natürlichen Kausalzusammenhang mit dem Ereignis hatte gebracht werden können.» Die Folgen des Unfalls seien jetzt ausgeheilt. Was ihr jetzt noch Schmerzen bereite, seien Vorschädigungen – eine Krankheit.
Immer härter und schneller
Seit ihrem Unfall kann Doris Brunner nur noch 50 Prozent arbeiten. Sie bekommt eine Pensionskassenrente. Doch mit einer Rente der Unfallversicherung stünde sie finanziell deutlich besser da. Neurologe Erich Riederer hat Doris Brunners Wirbelsäule untersucht. Er stellt fest: Patienten mit Vorschädigungen, auch wenn sie vorher beschwerdefrei waren, haben bei Unfällen schlechte Karten. Die Versicherungen seien im Vorgehen härter geworden. «Die Fälle werden immer schneller abgeschlossen. Dann heisst es, die noch vorhandenen Beschwerden seien auf irgendwelche Abnützungserscheinungen zurückzuführen.» Obwohl man wisse, so der Neurologe weiter, dass Leute mit viel mehr Abnützungserscheinungen an der Wirbelsäule vollständig beschwerdefrei leben.