Vor knapp zehn Jahren liess Jürg Grau aus Grindelwald bei seinem Einfamilienhaus das Dach sanieren. Doch bereits nach kurzer Zeit war es nicht mehr dicht: «Zuerst dachte ich, der Dachkännel sei verstopft. Aber das Wasser kam vom Schmelzeis, das zwischen Ziegel und der Dachkonstruktion war. Richtig sintflutartig floss das Wasser da hinunter», erklärt der Hausbesitzer.
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35 Jahre hatte das Ehepaar Grau eine einfache Dachkonstruktion und keine Probleme. Jürg Grau erinnert sich: «2006 bauten wir um, eine neueste Konstruktion mit dieser Dachfolie, und bereits nach zwei Jahren hatten wir Probleme».
Die Folge: Der Dachdecker musste das ganze Dach abdecken und eine neue Dachfolie einbauen. Viel Ärger und hohe Kosten von über 30‘000 Franken. Der Schaden entstand noch in der Garantiezeit. Sika bezahlte eine neue Dachfolie und übernahm sämtliche Reparaturkosten.
Hausbesitzer Jürg Grau hatte Glück im Unglück. Häufig wird der Schaden jedoch erst nach Ablauf der Garantie entdeckt. Hausbesitzer müssen dann oft den grössten Teil des Schadens selber berappen.
Wohnraum wird teilweise unbewohnbar
Rückblick: Vor zwei Monaten berichtete «Kassensturz» über ein Einfamilienhaus in Naters. Im oberen Stockwerk hatte es überall undichte Stellen. Auch im Kinderzimmer herrschten schreckliche Zustände. «Es regnete massiv hinein, wir mussten den Laminatboden wegnehmen, weil der Beton nass war». Das Kinderzimmer sei momentan unbewohnbar, sagte Hausbesitzerin Barbara Carlen.
Ein enormer Schaden hat auch das Hotel Firefly in Zermatt erlitten. Das ganze Dach muss saniert werden. Rund 750 Quadratmeter. Der Hotelier schätzt die Sanierungskosten auf mehrere hundert Tausend Franken.
Sika schreibt dazu «Kassensturz»: Beim Einfamilienhaus in Naters und dem Hotel Firefly hätten Begehungen vor Ort stattgefunden. «Beim Dach von Frau Carlen kann eine Drittursache aktuell nicht ausgeschlossen werden. Trotzdem werden wir uns an den Reparaturkosten grosszügig beteiligen. Beim Hotel Firefly wird in diesem Jahr vorerst eine Teilfläche des Daches saniert», erklärt der Schweizer Baukonzern. Sika betont zudem, dass es ihnen gelungen sei, mit den Eigentümern und weiteren involvierten Parteien eine einvernehmliche Lösung zu finden, mit der alle zufrieden seien.
Keine Einzelfälle
Undichte Dächer wegen schadhafter Sika-Dachfolie. «Kassensturz» weiss: Allein in Grindelwald sind über 100 Dächer betroffen. Einige Dächer sind bereits saniert, bei anderen steht die Sanierung kurz bevor. Probleme mit schadhaften Dachfolien hat nicht nur Grindelwald. Grosse Teile der Schweiz sind davon betroffen.
«Kassensturz» kann viele weitere Fälle belegen. Von Appenzell, in der Ostschweiz, über Engelberg, bis ins Wallis nach Zermatt. In vielen weiteren Orten der Schweiz wurden ebenfalls bereits Dächer saniert oder müssen noch saniert werden. Dies haben Bauherren und Dachdecker gegenüber «Kassensturz» bestätigt.
Doch niemand will sich öffentlich dazu äussern. Denn viele stehen in harten Verhandlungen mit Sika. Der Baustoffhersteller will ihnen oft nur einen kleinen Teil der Kosten erstatten. Sika schlägt den Geschädigten einmalige Geldzahlungen vor. Stimmen diese zu, verlangt Sika manchmal eine Stillschweigen-Vereinbarung.
Undichte Dächer, auch im Unterland
Beispielsweise in Triengen im Kanton Luzern: Hans Helfenstein führt seit 23 Jahren eine Zimmerei. Jahrelang bezog er bei Sika unter anderem die Dachfolie TU222, ohne zu wissen, dass sie mangelhaft ist. Nun bereitet sie ihm Probleme. Im letzten Jahr musste er eine Sika-Folie vom Dach eines Kunden nehmen. Sie habe sich bereits nach 6 Jahren zersetzt.
Eine weitere Dach-Sanierung stehe bevor. Dies sei für sein Geschäft keine gute Werbung, sagt der Zimmermann: «Man sieht natürlich, dass nach nur fünf Jahren wieder gebaut wird. Es ist sicher nicht die beste Mund-zu-Mund-Propaganda», klagt der Zimmermann.
Hinzu kämen finanzielle Einbussen, denn die Arbeitszeit für Vorabklärungen würden sie nicht verrechnen und die Dachsanierung würden sie zum Selbstkostenpreis erledigen, sagt Hans Helfenstein «So kommen wir der Bauherrschaft entgegen. Aber das ist für uns natürlich kein Geschäft mehr».
300 Fälle gelöst
Der Baustoffhersteller räumt gegenüber «Kassensturz» ein: Bis heute hätte Sika rund 300 Fälle mit der undichten Dachfolie gelöst, «einvernehmlich und zur vollen Zufriedenheit der Kunden» schreibt Sika «Kassensturz». 2010 habe man die Folie weiter entwickelt und verbessert. Seitdem verursache sie keine Schäden mehr.
Und weiter: «Die Schadensfälle betreffen eine verschwindend kleine Anzahl der 2004 bis 2010 gelieferten Dachbahnen. Bei der überwiegenden Zahl der Bauten treten keinerlei Schäden auf. Es gibt deshalb keinen Grund, Hausbesitzer vorsorglich zu informieren.»
«Das Problem seit Jahren bekannt»
Gegenüber «Kassensturz» äussert sich ein ehemaliger Mitarbeiter der Firma Sika. Er arbeitete bis 2012 als technischer Berater im Aussendienst. Täglich verkaufte er Flach- und Steildachsysteme. Er sagt: Sika habe das Problem mit dieser Dachfolie bereits seit Jahren gekannt.
Das Problem mit der undichten Unterdachfolie TU222 habe er zum ersten Mal im Dezember 2005 festgestellt. Das war in Grindelwald, sagt der ehemalige Mitarbeiter. «Ich schrieb einen Bericht zuhanden meines Vorgesetzten und leitete ihm weiter, dass wir ein Problem haben. Man nahm dies aber nicht wirklich ernst.» Daraufhin sei nichts geschehen.
Sika widerspricht: Die Firma hätte erst im Jahre 2009 erste Schadensmeldungen erhalten und sofort mit der Verbesserung der Dachfolie reagiert.
Sika reduziert Haftung in AGB
Die verschiedenen Sika-AGB:
Auffällig: In den letzten Jahren reduzierte Sika in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen ihre Haftung. 2006 bezahlte die Firma, damals noch Sarnafil, die ganze Sanierung mit den üblichen Begleitkosten. Seit 2007 ist dies nicht mehr so.
Sika bezahlt gemäss AGB nur noch für eine spesenfreie Ersatzlieferung der Dachfolie. Darauf gewährte sie weiterhin 10 Jahre Garantie. Doch vor einem Jahr reduzierte sie die Garantiedauer auf 5 Jahre.
Probleme bereits mit der Vorgänger-Folie
Gebäudehüllenfachmann Fredi Hurschler deckt seit 33 Jahren in Engelberg und Umgebung Dächer. Er war unter anderem jahrelang für die praktische Ausbildung im Bereich Unterdach an der Berufsfachschule für Dachdecker verantwortlich. Er sagt, Sika habe bereits Probleme mit der Vorgänger-Folie gehabt. Er habe mehrmals darauf hingewiesen. Das war vor knapp 20 Jahren.
Auch er kennt aktuelle Schadensfälle. «Hier in Engelberg kenne ich fünf Fälle, bei welchem die Unterdachfolie nicht dicht ist und zu Problemen führt.», sagt Hurschler. Von einem Steildach dürfe man eine Lebensdauer von dreissig bis vierzig Jahren erwarten. Sein Urteil zur undichten Sika-Dachfolie ist eindeutig. «Wenn wir hier oben ein Dach konstruieren, so besteht dies aus einem Deckmaterial Ziegel oder Eternit und einer wasserdichten Unterdachbahn.»
Diese Unterdachbahn müsse die genau gleiche Lebenserwartung haben wie das Deckmaterial. «Es kann nicht sein, dass eine Unterdachfolie nach fünf, zehn oder fünfzehn Jahre undicht wird.»
Ein Branchenproblem
Sika sagt, bei den undichten Dachfolien handle es sich um ein Branchenproblem. Sie verweist dabei auf einen Brief des Präsidenten der Technischen Kommission Steildach, den Sika erst kürzlich erhalten habe. Die Kommission Steildach liess im Jahre 2010 Unterdachbahnen von verschiedenen Herstellern überprüfen. Das Resultat habe gezeigt, dass die Proben von allen Herstellern die geforderte Dichtigkeitsklasse W1 nicht oder nur teilweise erfüllen würden.
Allerdings: Sämtliche Personen, die sich diesbezüglich an Kassensturz gewandt haben, klagen von Probleme mit der Unterdachbahn Sarnafil TU222 von Sika und nicht mit einer Dachfolie eines anderen Herstellers.