Peter Knäbel, Fifa-Präsident Gianni Infantino spricht von der besten WM aller Zeiten. Hat Sie das Turnier auch so begeistert?
Peter Knäbel: Nein, also so begeistert hat es mich nun auch wieder nicht. Infantino nimmt wohl die Organisation als Referenz. Für mich ist die Qualität des Fussballs massgebend – und diese war wenig überragend.
Die Gruppenphase war durchzogen und das Niveau durchschnittlich.
Täuscht der Eindruck, dass viele Spiele auf einem mässigen Niveau über die Bühne gingen?
Nein, dieser Eindruck täuscht nicht. Mit den Halbfinals wurde es spektakulär und auch sehr interessant. Aber die Gruppenphase war durchzogen und das Niveau durchschnittlich. Es wurden ausser Standardsituationen, insbesondere Corner, wenig offensive Lösungen gesucht.
Woran liegt das?
Nationalteams können sich nicht so einspielen wie Klubs. Der Unterschied zwischen der tollen Champions-League-Saison und der WM liegt also in der Vorbereitungszeit. Nationalteams müssen sich darauf konzentrieren, alle Akteure im athletischen Bereich auf das gleiche Niveau zu bringen. Das Spielerische kommt deshalb zu kurz, es kann sich dann aber im Verlauf des Turnieres entwickeln. Der Final war sehr attraktiv, auch der Halbfinal Frankreich - Belgien war richtungsweisend für den Fussball.
Richtungsweisend auch für den Klub-Fussball?
Unbedingt, denn man hat gesehen, wieviel individuelle Klasse es heute braucht, um Lösungen im letzten Drittel des Spielfeldes zu finden. Die Belgier haben gezeigt, dass es nicht nur mit dem Umschaltspiel getan ist, sondern dass sie auch einen Gegner dominieren können. Es reicht nicht nur ein Kevin De Bruyne, sondern es braucht auch noch einen Eden Hazard. Und eine starke Nummer 9 ist natürlich auch gut.
Ballbesitz-Fussball war immer überbewertet.
Bei den Topnationen fehlte in vielen Spielen das Bestreben, die Entscheidung in Form eines 2:0 zu suchen. Eher wurde ein 1:0 verwaltet. Ein neuer Trend?
Nein, die Spanier sind 2010 so Weltmeister geworden. Das 1:0 ist das wichtigste Tor. Und die Trainer sind darauf aus, eine Führung zu verwalten.
Ist der Ballbesitz-Fussball am Ende?
Der war immer überbewertet. Niemand hat eigentlich hinterfragt: Was ist denn jetzt eigentlich Ballbesitz? Wenn man den Ball hat, aber vom Gegner gepresst wird, so ist man von diesem Pressing dominiert. Das gemeine Fussball-Volk weiss mittlerweile, dass man trotz Ballbesitz auch Gefahr läuft, ein Tor zu kassieren. Daher ist dieser wieder etwa an dem Platz, an den er hingehört.
Gibt es einen Spieler, der Sie an dieser WM ganz besonders beeindruckt hat?
Lucas Hernandez und Eden Hazard. Hernandez ist ein junger Spieler. Und eine richtig gute Mannschaft zeichnet sich durch gute Aussenspieler aus. Die Gegner stellen häufig die Mitte zu, dadurch kommen sie in Ballbesitz. Und wenn diese Spieler Qualität haben, wird es gefährlich über die Flügel.
Und Hazard?
Bei aller Wertschätzung für die Leadership-Rolle von Luka Modric war er für mich der beste Spieler des Turniers. Wenn Hazard bei Real Madrid spielen würde oder Belgien in den Final gekommen wäre, hätte er die Auszeichnung auch erhalten.
Portugal ist ganz einfach über dem Zenit. Und bei Messi hat es einfach nicht gegeigt.
Cristiano Ronaldo, Lionel Messi und die Deutschen sind früh gescheitert. Sind die Top-Stars zu müde in diese WM gestartet?
Nein, Ivan Rakitic hat mit dem Final sein 71. Spiel in dieser Saison bestritten. Die Trainingssteuerung ermöglicht es heute, dass die Spieler mit der richtigen Fitness antreten. Portugal ist ganz einfach über dem Zenit. Und bei Messi hat es einfach nicht gegeigt.
Ist Weltmeister Frankreich auch das Team, das Sie am meisten beeindruckt hat?
Nein, Belgien hat mich mehr beeindruckt. Aber der Sieg Frankreichs im Halbfinal war nicht gestohlen. Und die Franzosen haben schon auch beeindruckt. Sie hatten einen Spieler wie Ousmane Dembélé auf der Ersatzbank. Die Masse an Spielern, welche der französische Markt hervorbringt, ist gewaltig. Am meisten beeindruckt mich aber die Leistung von Didier Deschamps. Er verliert in Frankreich den EM-Final und holt zwei Jahre später den WM-Titel. Das ist im Bereich Management etwas vom Bemerkenswertesten in den letzten Jahren.
Wenn man weiter in diese Richtung geht, ist der VAR ein Fortschritt.
Der Videobeweis funktionierte besser als in der Bundesliga, sehen Sie das auch so?
Der wichtigste Grund ist das A im Wort VAR. Er ist ein Assistent für schwierige Fälle und nicht der Oberschiedsrichter. Ich glaube, diesen Ansatz hat man in der Bundesliga kommunikativ verpasst. Wenn man weiter in diese Richtung geht, ist der VAR ein Fortschritt. Denn er offizialisiert den Ermessensspielraum des Schiedsrichters: Du darfst innerhalb einer Bandbreite entscheiden, ob es ein Foul, Hands oder Tor war. Aber wenn es ganz klar wird, dann helfen wir dir. Der Schiedsrichter hat wie einen Fallschirm. Er wird keinen schwerwiegenden Entscheid fällen, der nicht von aussen verfolgt wird.
Sendebezug: Laufende WM-Berichterstattung SRF zwei