Wie schnell der Wind doch drehen kann. Vor einer Woche herrschte in Fussball-Deutschland noch Weltuntergangs-Stimmung. Nun, nach den beiden Siegen gegen Vize-Weltmeister Frankreich und die Erzrivalen aus den Niederlanden liegt der Europameistertitel für die DFB-Elf gefühlt schon bereit.
Den Meinungsumschwung hat auch SWR -Journalist Jürgen Schmidt wahrgenommen. So hätten den 2:1-Sieg am Dienstag bei RTL über 12 Millionen Zuschauer mitverfolgt: «Das ist für den Sender die erfolgreichste Übertragung seit 2019. Das zeigt schon, dass die Euphorie da ist.» Dazu kämen Meinungsmacher wie Experte und Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, die Deutschland an der EURO den Titel zutrauen.
Kroos beflügelt alle
Schmidt hält dagegen: «Das waren jetzt zwei Testspiele. Die Franzosen haben wir mit dem schnellen Tor überrumpelt und das Spiel gegen die Niederländer hätte auch unentschieden ausgehen können.»
Trotzdem findet auch er es bemerkenswert, was zuletzt rund um die deutsche Nationalmannschaft passiert ist. So habe Trainer Julian Nagelsmann, der in der Öffentlichkeit nicht bei allen beliebt ist, zusammen mit seinem Staff scheinbar an den richtigen Stellschrauben gedreht:
- Das Kroos-Comeback: «Er ist die grosse Gallionsfigur, die zurückgekommen ist. Kroos hat sich in den letzten drei Jahren auch noch einmal weiterentwickelt. Er zeigt den anderen, was sie zu tun haben – und zwar nicht indem er herumschreit, sondern einfach durch seine Präsenz. Er ist ein echtes Denkmal, zu dem die anderen auch aufschauen. Die Top-Talente Florian Wirtz oder Jamal Musiala kriegen grosse Augen und wissen, was sie machen müssen. Und Robert Andrich freut sich, dass er neben ihm spielen darf.»
- Das Aufgebot: «Die haben sich gefragt: ‹Was können wir ändern?› Und dann sind sie zum Schluss gekommen, zum Beispiel einen Leon Goretzka nicht mehr aufzubieten, weil Kroos dabei ist. Oder auch den Dortmunder Block mit Mats Hummels, Nico Schlotterbeck oder Julian Brandt aussen vor zu lassen und stattdessen auf Spieler von Leverkusen oder Stuttgart zu setzen, die in Form sind.»
- Die Philosophie: «Nagelsmann hat dem Team den Druck genommen, indem er gesagt hat: ‹Wir kicken. Habt Spass dabei und lasst den Druck aussen vor. Wir kicken, mehr nicht.› Dass wir gute Spieler haben, war ja schon vorher klar, sie waren nur keine Mannschaft, das ist jetzt anders. Und Nagelsmann hat eine gute Mischung aus jungen, wilden, aggressiven Spielern und arrivierten Kräften gefunden.»
Trotzdem bleiben in Schmidts Augen noch Baustellen, die es bis zur EURO zu beheben gilt. Da wäre die Frage, was mit der Captainbinde passiert, die Nagelsmann im letzten Jahr an Ilkay Gündogan vergeben hat. Doch mit der Rückkehr des zuvor abwesenden Duos Kroos und Manuel Neuer könnte da eine Korrektur nötig werden.
Was passiert mit Sané?
Auch die Rolle von Leroy Sané ist noch nicht klar. Nach seiner roten Karte im Test gegen Österreich fehlt der Bayern-Flügel noch eine Partie und ist so nicht Teil des Aufschwungs. Ob der Hochveranlagte kurz vor der EM doch noch in die Stammelf rutscht? Und wenn ja: Wer aus dem Trio Musiala, Wirtz oder Gündogan muss weichen?
Und dann sind da noch die Nebenschauplätze, die den deutschen Fussball aktuell umtreiben. Sei es das pinke Trikot, der Ausrüsterwechsel von Adidas zu Nike oder die neue Tormusik «Major Tom», die per Petition gefordert worden ist. Das alles zeige, dass Fussball den Deutschen nicht egal ist.
Sommermärchen 2.0?
Und trotzdem ist 2 Monate vor der Endrunde im Gastgeberland noch kaum etwas von EM-Euphorie zu spüren, doch die Hoffnung auf ein Sommermärchen 2.0 besteht bei Schmidt durchaus: «2006 hat Franz Beckenbauer das Wetter angeknipst und dann schien bis auf 2 Tage nur die Sonne. Das war eine grossartige Party. Das wünsche ich mir auch diesmal wieder.»