Es ist zuweilen schon verrückt, wie schnell sich die Gemütslage im Fussball ändern kann. Es ist noch nicht lange her, da wurde das deutsche Nationalteam mit reichlich Spott eingedeckt. Das Länderspiel-Jahr 2023 begann für die DFB-Elf zwar mit einem 2:0 gegen Peru, es folgten jedoch 5 sieglose Partien gegen Teams, die alles andere als Fussball-Übermächte sind.
Die 1:4-Schmach am 9. September in Wolfsburg gegen Japan brachte das Fass zum Überlaufen, Trainer Hansi Flick musste seinen Posten räumen. Auf ein kleines Strohfeuer – unter Interimscoach Rudi Völler wurde Frankreich besiegt – folgten zum Jahresabschluss unter Neo-Coach Julian Nagelsmann zwei weitere heftige Ohrfeigen: 2:3 gegen die Türkei und 0:2 gegen Nachbar Österreich.
Neues Jahr, neues Glück
An Euphorie beim Gastgeber war zu Beginn des EM-Jahres nicht zu denken. Aber eben: Es kann schnell auch in die andere Richtung gehen. Und glücklicherweise aus Sicht der Deutschen kam es genau so. Die 180-Grad-Gefühlswende wurde durch folgende Ereigniskette befeuert:
- 22. Februar: Der nach der EM 2021 aus dem Nationalteam zurückgetretene Toni Kroos gibt sein Comeback in der DFB-Elf bekannt.
- 23. März: Mit Kroos als Denker und Lenker im Mittelfeld feiert Deutschland in Lyon einen 2:0-Testspiel-Sieg gegen das hochgepriesene Frankreich.
- 26. März: 3 Tage später bezwingt Deutschland in Frankfurt mit den Niederlanden eine weitere Top-Nation. Der Funke springt auf die Anhänger über, auch die Tor-Hymne «Major Tom» trägt ihren Teil dazu bei.
Einen Rückkehrer, zwei Testspiel-Siege (und einen Tor-Song): Mehr hat es nicht gebraucht, um das deutsche Selbstverständnis wieder zum Vorschein zu bringen. Nun steht die Heim-EM unmittelbar bevor und die Rede im Gastgeber-Land ist nicht mehr von einem Albtraum, sondern von einem Sommermärchen 2.0.
Junge, agile, schnelle Offensive
Trainer Nagelsmann scheint gerade noch rechtzeitig die richtigen Hebel gefunden zu haben, um eine personell zweifelsohne überdurchschnittlich gute Mannschaft auf dem Platz funktionieren zu lassen. Die Mechanismen scheinen plötzlich zu greifen, das Team tritt als Einheit auf und weiss mit Kroos nun auch einen Leader in den eigenen Reihen, der Verantwortung übernimmt und alle seine Mitspieler (noch) besser macht.
Besonders in der Offensive ist Deutschland – auch in der Breite – qualitativ hochstehend besetzt. Jamal Musiala und Florian Wirtz sind trotz ihren erst 21 Jahren bereits jetzt absolute Weltklasse. Dazu kommen mit Leroy Sané und Kai Havertz zwei weitere Angreifer, die jederzeit den Unterschied ausmachen können.
Alles andere als der Gruppensieg wäre eine Überraschung
Auf dem Papier ist Deutschland nicht nur Favorit auf Platz 1 in der Gruppe A mit Schottland, Ungarn und der Schweiz. Vergleicht man die Kader der Top-Nationen, kommt man kaum daran vorbei, den Gastgeber auch zu den Mitfavoriten auf den EM-Titel zu zählen. Ähnlich sehen es die Buchmacher, welche einzig England und Frankreich noch höher einstufen als Deutschland.
Davor, zu früh schon zu weit nach vorne zu blicken, wird sich die DFB-Elf aber hüten. Denn sie sollte am besten wissen, dass der Wind innert kürzester Zeit drehen kann. Schon das Eröffnungsspiel gegen Schottland könnte wegweisend sein, ob die Reise an der Heim-EM eher in Richtung Albtraum oder Sommermärchen geht.