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Sportjurist schätzt ein Urteil im Fall Semenya: Nur Symbolcharakter oder doch mehr?

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt sich im Fall Caster Semenya die Frage: Wie geht es weiter?

Caster Semenya hat am Dienstag im juristischen Ringen gegen die Testosteron-Vorschriften mit ihrer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht bekommen. Die Richter am Strassburger Gericht stellten mehrere Menschenrechtsverletzungen fest, die Südafrikanerin sei diskriminiert worden. Zuvor hatte Semenya erfolglos vor dem Internationalen Sportgerichtshof TAS sowie dem Schweizer Bundesgericht geklagt.

Auf die Bahn – genauer gesagt in ihre Paradedisziplin 800 m – wird die 32-Jährige trotzdem nicht zurückkehren. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Das Gutheissen ihrer Klage setzt die geltende Testosteron-Regelung des Leichtathletik-Weltverbands nicht ausser Kraft.

Man wird stärker auf die Kompatibilität mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schauen müssen als bisher.
Autor: Stephan Netzle Sportjurist

«Im Moment hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nur festgestellt, dass in der Schweiz kein ausreichendes Rechtsmittel zur Verfügung steht, um Menschenrechtsverletzungen zu rügen», erklärt Sportjurist Stephan Netzle gegenüber SRF. «Wenn man das Urteil aber genauer anschaut, kann das schon weitere Konsequenzen haben», ergänzt der Rechtsanwalt mit Fachgebiet Sportrecht.

Urteil setzt gewissen Druck auf TAS auf

Aber was heisst das konkret? Netzle spricht nach dem Urteil aus Strassburg von einer «begrenzten Haltbarkeit» der Testosteron-Regelung. «Wenn eine Athletin diese Vorgabe des Leichtathletik-Weltverbandes erneut anficht und der Fall wieder beim TAS landet, stellt sich die Frage, ob sich dieser über die Meinung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hinwegsetzen kann oder ob es Anpassungen geben wird.»

Netzle rechnet denn auch damit, dass es in der Rechtssprechung des TAS Anpassungen geben wird. «Diese kann sich dem Urteil nicht entziehen und man wird stärker auf die Kompatibilität mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schauen müssen als bisher.»

Stand jetzt hat das Urteil im Fall Caster Semenya vor allem symbolischen Charakter. Aus Sicht von anderen von der Testosteron-Regelung betroffenen Athletinnen ist es aber gleichzeitig ein Druckmittel. «Es gibt andere Sportlerinnen mit den gleichen biologischen Merkmalen, die das sicher aufnehmen werden», glaubt Netzle.

Geändert hat sich durch das Urteil gemäss Netzle vor allem eines: die Sichtweise. «Diese ist nun klar aus Sicht der Betroffenen. Die bisherige Rechtssprechung ging eher vom Schutz von allen anderen aus, vom Wettkampf und der Chancengleichheit. Und das hat sich verlagert.»

Radio SRF 1, 11.07.23, 12:00 Uhr ; 

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