Als Ajla Del Ponte letzten Sommer bei Olympia in Paris die Leichtathletik-Wettbewerbe live vor Ort verfolgte, tat sie etwas, das sonst ganz bestimmt niemand im Stadion tat: Sie schloss beim 100-m-Final der Frauen die Augen.
«Das war für mich ein Zwischenweg: Ich war zwar dort, aber nicht einfach als Zuschauerin», sagt die Tessinerin im Interview mit SRF. Denn eigentlich wäre ihr Platz unten auf der Bahn gewesen. Wie 2021 in Tokio, als sie zusammen mit Landsfrau Mujinga Kambundji im Final stand und in der damaligen Schweizer Rekordzeit von 10,90 Sekunden sensationell den 5. Platz erreichte.
Viele Verletzungen und Depressionen
Die Karrieren der beiden Schweizer Top-Sprinterinnen entwickelten sich danach aber in gegensätzliche Richtungen. Immer wieder warfen Del Ponte Verletzungen zurück. Probleme am Hamstring, drei Stressfrakturen am Schienbein und zwei Muskelrisse im Oberschenkel, stets gefolgt von langen Reha-Phasen, in denen die Zweifel an einer erfolgreichen Rückkehr wuchsen.
Ich habe viel mit meinem Psychologen gearbeitet, um mental bereit zu sein.
Die 29-Jährige verhehlt nicht, dass sie in dieser Zeit auch mit Depressionen zu kämpfen hatte. «Ich wollte nichts machen oder unter die Leute, war antriebslos auf dem Sofa. Die Moral war sehr schwach», schildert sie die schwierigen Momente, die im Jahr 2023 einen Tiefpunkt erreichten und in Rücktrittsgedanken mündeten.
Lichtblick in Kortrijk
Dank professioneller Hilfe, der Liebe zum Sport und ihrem starken Willen fand sie Kraft, weiterzumachen. Und jüngst kamen auch die Resultate wieder zurück: Im belgischen Kortrijk lief sie die 100 m vor knapp zwei Wochen in starken 11,29 Sekunden, so schnell wie seit drei Jahren nicht mehr.
«Das war ein super Gefühl. Ich hätte das nicht erwartet», so Del Ponte. Im Training habe sie zwar häufig gute Zeiten hingelegt, im Wettkampf aber regelmässig blockiert. «Ich habe viel mit meinem Psychologen gearbeitet, um mental bereit zu sein.»
Tokio als Traum
Das Formhoch kommt zum richtigen Zeitpunkt. Im September steht die WM an – in Tokio, also am Ort von Del Pontes bisher grösstem Erfolg, der sich aufgrund der Corona-Pandemie allerdings in einem leeren Stadion abspielte. «Das wäre magisch. Ein Kreis würde sich für mich schliessen. Es wäre super, diesmal mit Publikum in Tokio zu laufen», wagt Del Ponte von der WM zu träumen.
Für eine Teilnahme wären allerdings 11,07 Sekunden gefordert. Die Limite liegt also noch einmal 22 Hundertstel unter ihrer Saisonbestleistung. Ist diese Zeit realistisch? Del Ponte will daran nicht allzu viele Gedanken verschwenden. Ihre Leidenszeit habe sie Geduld gelehrt. Schritt für Schritt will sie sich an die 11,07 herantasten – und dereinst vielleicht sogar wieder die 11-Sekunden-Marke angreifen.
Als momentan grösstes Ziel bezeichnet sie eine Rückkehr in die Schweizer 100-m-Staffel. «Allerdings haben wir in der Schweiz eine riesige Konkurrenz über 100 m.»