Nach ihrer – einmal mehr hervorragenden – Balkenübung in der Qualifikation am Sonntag verzog Simone Biles das Gesicht und fasste sich an die Wade. Später lief sie mit einem Tape durch die Turnmanege der Bercy Arena in Paris und hinkte leicht.
«Ich war erstaunt darüber», gibt SRF-Experte Roman Schweizer zu. Denn: «Normalerweise tritt sie nur an, wenn sie sich 100-prozentig fit fühlt.» Deshalb habe die Ausnahme-Athletin in ihrer Karriere auch nur wenige Verletzungen gehabt.
Den Saldo aller US-Männer übertrumpft
Trotz augenscheinlichem Handicap trat Biles am Dienstag mit ihren Landsfrauen zum Olympia-Teamfinal an und führte die USA mit leicht angezogener Handbremse überlegen zu Gold. Unter den Augen von Superstars wie Tom Cruise, Snoop Dogg oder John Legend holte sich die Turnkönigin ihre 38. Medaille bei Olympia und WM: Damit hat sie an Grossanlässen mehr Auszeichnungen gewonnen als alle männlichen US-Turner in der Geschichte zusammen.
Diese absolute, seit mittlerweile 11 Jahren andauernde Dominanz im Turnsport ist aussergewöhnlich. Experte Schweizer hat drei Erklärungsansätze:
- Körperliche Voraussetzung: «Sie hat einen idealen Körperbau für das Kunstturnen. Kompakt, nicht allzu gross und wahnsinnig explosiv. Sie kann aus null Anlauf in die Salto- und vor allem in die Schraubenrotation kommen – das kann keine andere Athletin.»
- Risikobereitschaft: «Biles könnte mit deutlich einfacheren Übungen Olympiasiegerin oder Weltmeisterin werden, aber sie scheut das Risiko nicht. Sie sagt sich: Ich bin meine eigene Konkurrentin und will mich leistungsmässig immer wieder auf ein neues Niveau anheben.»
- Schwierigkeit der Übungen: «Sie hat in den Wertungsvorschriften fünf eigene Elemente, die nach ihr benannt sind (das bedeutet, sie hat diese als erste Frau geturnt, d. Red.). Das ist total aussergewöhnlich. Ich behaupte auch, dass es das nie mehr geben wird. Ihren ‹Biles 2› – ein Doppelsalto rückwärts gebückt mit drei Schrauben – sieht man im Männerfeld bei Olympia vielleicht von drei Athleten.»
Als nächstes steht für die 27-Jährige aus dem Bundesstaat Ohio am Donnerstag der Mehrkampf-Final an. Wenn sie angetreten ist, hat Biles in dieser Disziplin bei Grossanlässen immer Gold geholt.
Nächste Revolution ausgerechnet am Stufenbarren?
Bei all den Superlativen und Lorbeeren: Hat die Frau auch Schwächen? «Da muss man wirklich suchen gehen», meint Schweizer lachend. «Aus meiner Sicht ist es der Stufenbarren.»
Denn: Die Disziplinen Boden, Sprung und Balken (wo sie übrigens in allen drei Finals ebenfalls Goldanwärterin ist) werden vom Springen dominiert. «Beim Stufenbarren hat sie nicht das gleiche Repertoire wie die Konkurrenz», so Schweizer. Dass sich Biles als Neunte knapp nicht für den Final bei ihrem schwächsten Gerät qualifiziert hat, ist für den Experten dennoch «eine kleine Überraschung».
Übrigens: Ausgerechnet am Stufenbarren hätte die US-Amerikanerin ein neues Element in petto, welches noch nie geturnt wurde. Sollte sie es im Mehrkampf zeigen, wäre es ihr sechster Eintrag in die Wertungs-Geschichtsbücher – ein nächster unfassbarer Meilenstein.