Es wirkt fast so, als wäre man mit einer Zeitmaschine um ein paar Jahre in die Vergangenheit gereist. 4 Stunden und 35 Minuten stehen auf der Matchuhr, «Marathon Stan» hat soeben – wieder einmal ist man geneigt zu sagen – eine epische Tennispartie gewonnen. Sein Zeigefinger geht nach verwertetem Matchball an die Schläfe, die Fans feiern den Schwerstarbeiter ausgiebig. Es sind Szenen, wie man sie immer und immer wieder gesehen hat – und die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben.
Im Jahr 2023 ist dennoch alles ein wenig anders. Wawrinka ist nur noch die Nummer 89 der Welt, das Spektakel findet nicht in einer grossen Arena, sondern auf Platz 14 statt. Auch der Name des Gegners ist wenig klingend: Es sind nicht Winner gegen Djokovic oder Nadal, die für Begeisterungsstürme auf den Rängen sorgen. Auf der anderen Seite des Netzes steht der Spanier Albert Ramos-Vinolas. Ein grossartiger Tennisspieler, keine Frage – ihn als unscheinbar zu bezeichnen, grenzt aber fast schon an eine Übertreibung.
Durststrecke beendet
Und doch ist der 29. Mai und der Sieg gegen ebendiesen unspektakulären «Sandhasen» ein ganz spezieller für Wawrinka. Erstmals seit zwei Jahren gewinnt er wieder ein Match auf Grand-Slam-Stufe. Zuletzt scheiterte der Romand viermal hintereinander in der 1. Runde, sein letzter Sieg datiert von den Australian Open 2021. «Es ist schön zu sehen, dass ich solche Schlachten noch gewinnen kann», resümierte Wawrinka nach der emotionalen Partie.
Getragen wurde der 38-Jährige, French-Open-Sieger von 2015, von den Fans. Praktisch jeder Punkt des Schweizers wurde lautstark bejubelt. Sie trugen Wawrinka über die Ziellinie, nachdem er eine 2:0-Satzführung fast noch aus den Händen gegeben hatte. «Die Menschen in Paris haben mir schon immer einen sehr netten Empfang bereitet. (…) Heute habe ich eine spezielle Verbindung gespürt, das hat mir extrem viel Energie gegeben», unterstrich der 3-fache Grand-Slam-Champion die Wichtigkeit des Supports von den Rängen.
Es seien genau diese Momente, die ihn zum Weitermachen motiviert hätten. Die Karriere Wawrinkas hing zwischenzeitlich an einem seidenen Faden. Nach zwei Knieoperationen 2017 musste der Schweizer 2021 erneut zweimal unters Messer. Diesmal war es der linke Fuss, der Probleme bereitete. Im März 2022 gab Wawrinka sein Comeback, doch seither läuft es harzig. Eine Halbfinal-Qualifikation bei einem 250er-Turnier in Frankreich ist das Höchste der Gefühle, im Ranking hat er es nicht mehr in die Top 80 geschafft.
Paris als Nährboden?
Folgt in Paris nun der Turnaround? Wawrinka sagt, er habe sich vor dem Turnierstart «sehr, sehr gut gefühlt. Das Niveau ist da, jetzt muss ich das nur Match für Match zeigen.»
Als Nächstes stellt sich ihm Thanasi Kokkinakis in den Weg. Gegen den 27-jährigen Australier hat Wawrinka noch nie gespielt, eines haben die beiden dennoch gemeinsam: Wie Wawrinka wurde auch die Nummer 108 der Welt immer wieder von Verletzungen ausgebremst.