Rückblende: 11. Juni 2012. Rafael Nadal hat mit einem Finalsieg gegen Novak Djokovic soeben seinen 7. Titel in Paris gewonnen. Er schnappt sich bei der Siegerehrung das Mikrofon und wendet sich an die Zuschauer. «Bonjour tout le monde (...). Per me c'est un privilège jouer against le meilleur joueur du monde». Er lächelt schüchtern und wirkt peinlich berührt, weil ihm die französischen Worte nicht so locker wie gewünscht über die Lippen kommen. Den Zuschauern ist es egal, sie johlen dem Sieger zu, schätzen seine Geste.
Der Ärger von Coach Toni Nadal
Diese uneingeschränkte Zuneigung des eigenwilligen Pariser Publikums erfuhr der Rekord-Champion in den letzten 10 Jahren nur selten. Als Nadal 2009 im Achtelfinal von Robin Söderling regelrecht vorgeführt wurde, schlugen sich die Zuschauer auf die Seite des Aussenseiters. Auch als der Spanier kurz vor dem Out stand, wartete er vergeblich auf einen Impuls von den Rängen. Sein Onkel und Trainer Toni Nadal liess sich daraufhin zu folgender Aussage hinreissen: «Es gibt nur eine Sorte Zuschauer, die noch schlimmer ist als die Franzosen: Die Pariser.» Es sei ein «dummes» Publikum, wetterte der Coach.
Viele Fans würden gerne einen neuen Sieger sehen
Woher stammt diese gelegentliche Ablehnung? «Es hat damit zu tun, dass Franzosen oft den Aussenseiter unterstützen», erklärt Carole Bouchard, eine französische Tennis-Journalistin. «Sie gehen ohnehin davon aus, dass Nadal am Ende gewinnen wird. Viele von ihnen würden gerne einen neuen Sieger sehen.»
Federer bei den Fans die klare Nummer 1
Wobei «neu» hier vielleicht nicht ganz korrekt ist. Nur die wenigsten Franzosen hätten etwas dagegen einzuwenden, wenn Roger Federer nach 2009 ein 2. Mal triumphieren würde. «Roger spricht französisch, kommt geographisch gesehen aus der Nähe. Die Franzosen haben ihn gewissermassen adoptiert», erklärt Bouchard. Für Frankreichs Tennis-Fans wäre ein weiterer Triumph des Schweizers fast so viel wert wie der erste Sieg eines Einheimischen seit Yannick Noah vor 32 Jahren.
Im Gegensatz zu Nadal verkörpert Federer das, was der Franzose gerne als «Flamboyance» bezeichnet. Stil und Eleganz triumphieren über Athletik und schiere Kampfkraft. «Franzosen haben ein Schubladen-Denken», sagt Bouchard, «für sie ist Rafa der kraftvolle Matador, Roger das stilvolle, königliche Genie». Dass das Genie in diesem Duell die Oberhand behalten soll, steht ausser Frage.
Respektloser Umgang mit dem Rekordsieger
Was mangelnder Respekt bedeutet, erfuhr Nadal auch im letzten Jahr. Als achtfacher Champion, Titelverteidiger und Weltnummer 1 musste er sein Auftaktmatch auf dem zweitgrössten Court bestreiten – Djokovic und Stan Wawrinka wurden ihm vorgezogen. «Bei anderen Grand-Slam-Turnieren unvorstellbar, sie wissen ihre Champions zu würdigen. Das hätte niemals passieren dürfen», stellt Bouchard klar.
So wird Nadal auch in diesem Jahr nicht nur gegen seine Widersacher, sondern auch um die Gunst des Publikums kämpfen. Dass er für einmal nicht als haushoher Favorit an den Start gehen wird, könnte zu seinem Vorteil werden.
Nadals Triumphe in Paris
Sendebezug: Radio SRF 3, Abendbulletin, 18:45 Uhr, 22.05.15