Der Kontrast könnte kaum grösser sein. Nach einem epischen, über dreistündigen Kampf bei brütender Hitze umarmte Marta Kostyuk US-Open-Siegerin Coco Gauff herzlich. In den beiden Runden davor, nach Siegen gegen die Russinnen Jelina Awanesjan und Maria Timofejewa, hatte die Ukrainerin ihren Gegnerinnen sogar den Handschlag verweigert – wie das nun seit fast zwei Jahren üblich ist.
Ich kann immer noch nicht verstehen, was all diese Spielerinnen und Spieler hier machen.
«Ich hatte am Ende der letzten Saison eine lange Pause», erklärt die 21-Jährige aus Kiew, die erstmals überhaupt einen Grand-Slam-Viertelfinal erreichte. «Als ich nach drei Monaten auf die Tour zurückkam, sprach niemand mehr über den Krieg», ärgert sie sich. «Als ob nie etwas geschehen wäre.» Sie sieht es wie andere Ukrainerinnen deshalb als ihre Mission an, den Krieg gegen Russland wieder in Erinnerung zu rufen. Und sie nutzt deshalb ihre Pressekonferenzen bereitwillig, um ihre Meinung klar zu machen.
Was machen die hier?
Zum Beispiel, dass Tennis eine der relativ wenigen Sportarten ist, in denen Russen und Belarussen ohne Einschränkung teilnehmen dürfen, wenn auch unter neutraler Flagge. «Ich kann immer noch nicht verstehen, was all diese Spielerinnen und Spieler hier machen», macht sie ihre Position glasklar.
«Bevor ich auf den Platz gehe, lese ich die News, und höchstwahrscheinlich steht da etwas von Raketeneinschlägen. Wenn ich vom Platz gehe, steht wiederum etwas von so und so vielen Raketen.» Die Menschen zuhause hätten aber Freude an den Erfolgen. «Sie schreiben mir, dass sie zwischen den Raketeneinschlägen und dem Tennis hin und her wechseln.»
Kostyuk denkt auch an ihre jüngere Schwester, eine talentierte Hochspringerin, wie sie sagt. «Es ist die Generation, die jetzt heranwächst, die am meisten leidet. Das wird noch in zehn, fünfzehn Jahren so sein», fürchtet sie.
Am Druck fast zerbrochen
Die letzte Hoffnung auf gute News ist nun ausgerechnet Dajana Jastremska, die als erst zweite Qualifikantin in den letzten 30 Jahren die Viertelfinals erreichte. Die letzte im Tableau verbliebene Ukrainerin trifft am frühen Mittwochmorgen auf die Tschechin Linda Noskova. Jastremska erklärt ihren Rückfall im Ranking auch mit dem Druck, den sie sich selbst auferlegt habe. «Der Krieg hat uns alle massiv getroffen. Ich spielte nicht mehr nur für mich selber», erinnert sich die 23-Jährige aus Odessa. «Da war der Krieg, und ich musste einfach bessere Resultate liefern. Damit konnte ich nicht umgehen.»
Azarenka: «Nächste Frage»
Die russischen und belarussischen Spielerinnen ziehen es vor, zu dem auch für sie heiklen Thema zu schweigen. «Nächste Frage», sagte Victoria Azarenka (BLR) nach ihrer Achtelfinal-Niederlage gegen Jastremska kurz und bündig.
Für die Ukrainerinnen ist das Ausblenden nicht ganz so einfach. Doch wie sagt Kostyuk: «Keiner hätte gedacht, dass wir nach zwei Jahren immer noch kämpfen. Jeder dachte, wir würden einfach sterben und untergehen. Es ist sehr erschöpfend, in diesem Zustand zu leben, aber wir sind noch da.»