Es beginnt im vietnamesischen Dschungel, Ende der 1960er-Jahre. Der Vietnamkrieg tobt, und die Vietcong stellen fest: Mehr Soldaten als durch feindliche Handlungen verlieren sie durch Malaria. Sie suchen Hilfe in der Volksrepublik China. Mao Zedong höchstpersönlich lanciert daraufhin unter dem Namen «Projekt 523» eine geheime und grossangelegte Forschungsinitiative für die Bekämpfung von Malaria. Hunderte von Forschenden im ganzen Land werden mit der Suche nach neuen Wirkstoffen beauftragt.
Ungünstige Voraussetzungen
Das ist insofern bemerkenswert, als Wissenschaftler in China während der Kulturrevolution keinen guten Stand haben. Sie werden zu Landarbeit gezwungen, verfolgt, getötet. Nun aber sollen sie mit Hochdruck forschen. Ein Teil von ihnen soll sogar in alten Rezepten der traditionellen chinesischen Medizin nach möglichen Wirkstoffen fahnden – wo doch gerade die traditionelle chinesische Medizin von der Kommunistischen Partei anfänglich mit Herablassung behandelt wird.
Doch später erkennt Mao Zedong das Potential der traditionellen Heilkunst und verfügt sogar, dass modern ausgebildete Wissenschaftler sich darin kundig machen müssen. Auch die junge Wissenschaftlerin Youyou Tu wird zu diesem Zweck in den Süden Chinas geschickt.
Im Rahmen des «Projekts 523» sammelt sie dann tausende von Rezepten mit hunderten von Pflanzen und Wirkstoffen – immer auf der Suche nach einem neuen Wirkstoff gegen Malaria. Und sie wird tatsächlich fündig, bei einer Pflanze namens artemisia annua , zu Deutsch einjähriger Beifuss, chinesisch Qinghao.
Ein altes Rezept
Die ersten Versuche sind durchzogen. Doch dann kommt Youyou Tu eine Zeile aus einem über 1600 Jahre alten Buch zu Hilfe. Qinghao wird nämlich bereits in einem Buch des Alchemisten Ge Hong gegen Malaria empfohlen, und zwar nach dem Rezept: eine Handvoll Qinghao in rund 4 dl Wasser einweichen, den Saft herauspressen und das ganze trinken.
Das Entscheidende hier ist nicht das traditionelle chinesische Rezept, sondern dass dieses ein Extraktionsverfahren beschreibt, das ohne heisse Temperaturen auskommt, die gewisse Wirkstoffe zerstören – anders als in Youyou Tus ersten Versuchen. Tu versucht es also mit einem anderen, allerdings modernen Verfahren mit tieferen Temperaturen. Und siehe da: Es wirkt! Zumindest bei Mäusen.
Skeptischer Westen
Es zeigt sich: Die Forscherin hat eine Substanz gegen Malaria entdeckt, die komplett anders ist als alle bekannte Substanzen. Sie wird Qinghaosu genannt, später auch Artemisinin. Dass der Wirkstoff gut verträglich ist, zeigt Youyou Tu gleich mit Versuchen an sich selbst und ihren Mitarbeitenden.
Es folgen Studien in ganz China, die allerdings geheim bleiben. Ein erster öffentlicher Bericht auf Chinesisch wird Ende der 1970er-Jahre veröffentlicht. Langsam werden auch Forscher im Westen auf Artemisinin aufmerksam. Weitere – systematischere – Studien folgen. Doch der Westen bleibt skeptisch. US-amerikanische Forscher können die Resultate nicht vollständig wiederholen, fürchten Nebenwirkungen. Und die Zusammenarbeit westlicher Pharmafirmen mit China ist kompliziert. Der kalte Krieg hinterlässt auch in der Medizin seine Spuren.
Erst in den 1990er-Jahren wird auch dem Westen richtig klar, wie potent das Mittel ist – nicht zuletzt, weil die Pharmafirma Novartis ein Kombinationspräparat mit Artimisinin lanciert, das auch westliche Kritiker verstummen lässt.
Endlich eine Erfolgsgeschichte
Die Geschichte von Artemisinin ist eine Erfolgsgeschichte, auch wenn seit einiger Zeit auch dagegen Resistenzen gemeldet werden.
Heldin der Erfolgsgeschichte ist Youyou Tu, die nun dafür den Nobelpreis für Medizin erhalten hat. Wie viele andere Forschende an der Entdeckung wie stark mitbeteiligt waren, vielleicht sogar wichtiger waren als Youyou Tu, darüber ist schon vor Jahren ein Streit entbrannt. Er füllt ganze Bücher.
Und auch die Frage, ob der diesjährige Nobelpreis auch ein wenig die traditionelle chinesische Medizin auszeichnet, wird kontrovers diskutiert: Diese spielte zwar eine Rolle bei der Entdeckung von Artemisinin, die eigentliche Arbeit aber war klassische Chemie.