Am 15. September 1935 verabschiedete das NS-Parlament in Nürnberg die sogenannten Nürnberger Gesetze. Sie schrieben Hass und Diskriminierung gegen jüdische Menschen sowie gegen Roma und Sinti ins deutsche Recht: Von nun an wurden Menschen nach Stammbaum einer «Rasse» zugeordnet.
Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti durften keine sogenannten «Arier» mehr heiraten, bestehende Ehen wurden annulliert. Betroffene verloren ihre politischen Rechte. Die Gesetze wirkten über Deutschland hinaus – auch in die Schweiz.
Diskriminierung an der Universität Zürich
Ein Jahr später schrieb die Universität Zürich eine Medizinprofessur aus. Die Bewerbungen wurden in drei Stapel sortiert: «Arier», «Nicht-Arier» und «Nazis». Juden, Roma, Sinti und Jenische waren von vornherein ausgeschlossen, ebenso bekennende Nationalsozialisten.
Am Ende erhielt ein Schweizer Kandidat die Stelle – jedoch erst, nachdem ein Rassengutachten nach Nürnberger Logik den Verdacht widerlegt hatte, er sei ein Jenischer.
Rassenforschung made in Switzerland
Die Schweiz diskriminierte nicht nur im Nachgang der Nürnberger Gesetze. Schon zuvor war sie aktiv an der sogenannten Rassenforschung beteiligt. Schweizer Universitäten, allen voran Zürich, betrieben seit Beginn des 20. Jahrhunderts Vermessungen und Klassifizierungen von Menschen.
Ziel war es, eine angebliche Überlegenheit von Weissen wissenschaftlich zu belegen. Mit dieser Forschung prägten sie den Begriff «Rasse» bis heute.
Der Zürcher Historiker Pascal Germann, der seine Dissertation zur Rolle der Schweiz in der Rassenforschung schrieb, erklärt: «Diese Vermessungen waren oft demütigend. In den Schweizer Lehrbüchern wurde beispielsweise hinsichtlich der Methodik gefordert, dass die zu vermessende Person ganz nackt sein musste.» Zürich wurde zu einem Zentrum der weltweiten Rassenforschung.
Die rassistische Vergangenheit des Anthropologischen Instituts von Zürich
In den 1920er-Jahren reisten Forscher aus aller Welt in die Limmatstadt, um am Anthropologischen Institut die Methoden der Vermessung von Menschen zu lernen.
Die Zürcher Messinstrumente und Lehrbücher kamen in Kolonien und in Konzentrationslagern in Deutschland zum Einsatz. Zürcher Wissenschaftler gewannen mit dieser schrecklichen Forschung unter Zwang an Ansehen und Geld.
Frühe Kritik – und das Image der Neutralität
Schon damals gab es Stimmen, die der Rassenforschung Ideologie und koloniale Interessen vorwarfen. «Vor allem Rassenforscher aus Grossbritannien, Deutschland und Frankreich standen unter dem Verdacht, damit einen imperialen Zweck zu verfolgen», so Germann.
Die Schweiz hingegen konnte von ihrem neutralen Ruf profitieren. Sie war zwar mit verschiedenen Kolonialmächten verbandelt. Schweizer kämpften als Söldner in Kolonien oder besassen Plantagen, auf denen versklavte Menschen arbeiten mussten. Doch weil die Schweiz keine eigenen Kolonien besass, galt ihre Forschung als objektiv und unpolitisch.
Gerade dieses Image machte Zürcher Studien für Kolonialmächte attraktiv – die vermeintlich neutralen Resultate legitimierten die gewaltvolle Herrschaft.
Heutige Aufarbeitung von früherem Unrecht
Eine zentrale Rolle spielte die Julius Klaus-Stiftung für Anthropologie und Rassenhygiene. Gegründet 1921 war sie eng mit der Universität Zürich verflochten – viele Professoren und mehrere Rektoren sassen im Stiftungsrat. Und sie unterstützte Forschung zur «Verbesserung der weissen Rasse».
Wir müssen uns unserer Vergangenheit stellen.
Erst 1971 änderte die Stiftung ihren Namen und ihre rassistischen Statuten. Denn die Rassenforschung, so Germann, ging auch nach 1945 in der Schweiz weiter.
«Wir müssen uns unserer Vergangenheit stellen», sagt Michael Krützen, Professor für Anthropologie und heutiger Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich (UZH). Erst seit rund 15 Jahren finde ein Umdenken statt: weg vom Schweigen, hin zu Transparenz. Ein neu gegründeter Beirat der UZH soll sich etwa mit Restitutionsforderungen zu menschlichen Überresten befassen.
Krützen fordert, dass die UZH – wie deutsche Universitäten – Fördergelder für die Aufarbeitung bereitstellt und zum Beispiel auch Informationstafeln anbringt. Die Julius Klaus-Stiftung hat für mehr Transparenz ihr Archiv ans Staatsarchiv übergeben, plant aber keine eigene Forschung zu ihrer Vergangenheit.
Rassenforschung – unethisch und wissenschaftlich problematisch
Pascal Germann betont: Rassenforschung war unethisch. Sie nur als pseudowissenschaftlich abzutun, sei jedoch zu einfach.
Dazu die Freiburger Wissenschaftshistorikerin und Professorin Veronika Lipphardt: «Es gab Forschung, die wissenschaftlich korrekt, aber moralisch untragbar ist. Zum Beispiel medizinische Forschung während des NS-Regimes, die Menschen in Experimenten quälte und tötete. So wollte man herausbekommen, wie Menschen körperlich auf extreme Belastungen reagieren. Selbst wenn diese Forschung methodisch korrekt durchgeführt wurde, war sie doch zutiefst unethisch – auch schon nach den moralischen Normen der damaligen Zeit.»
Lipphardt führt weiter aus: Die Rassenforschung konzentrierte sich aufs Vermessen, was nicht unbedingt mit körperlichen Schädigungen einherging. Aber ihre Zielsetzung und Anwendungsabsicht waren oft unethisch. Manche Studien verstiessen gegen damalige wissenschaftliche Standards, andere lassen zumindest das Bemühen um methodische Korrektheit erkennen. Aber die Rassenforschung operierte mit Konzepten und Grundannahmen, die wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sind und schon damals von Kritikern infrage gestellt wurden. Sie betont: «Ob man nun die damaligen oder die heutigen Massstäbe anlegt: Rassenforschung war unethisch und wissenschaftlich voller Mängel.»
Unethische Forschung im 21. Jahrhundert
Marginalisierte und diskriminierte Gruppen waren nicht nur in der Vergangenheit von unethischer und wissenschaftlich fragwürdiger Forschung betroffen. In der Humangenetik gab es noch bis ins 21. Jahrhundert DNA- und Datenerhebungen, die sowohl als unethisch einzustufen sind als auch wissenschaftliche Standards verletzen. So wurden kürzlich genetische DNA-Erhebungen an Uiguren sowie an Roma kritisiert.
Lipphardt zeigt am Beispiel der genetischen Studien an Roma, dass unethische Praktiken bis in die 1990er-Jahre weitergingen. Oft wurden DNA-Proben ohne Einwilligung genommen – teils sogar von Polizei- oder Militärangehörigen. Solche Proben und Daten wurden noch vor wenigen Jahren in Studien verwendet. Das sei unethisch, so Lipphardt.
Lipphardt betont, dass genetische Forschung an Roma auch gravierende wissenschaftliche Mängel hat. Das beginnt schon damit, dass Roma in der Genetik als genetisch isolierte Gruppe betrachtet werden – wobei die Forschenden sich für die Probensammlung auf isolierte Dörfer fokussieren und ihre Ergebnisse dann auf alle Roma eines Landes oder sogar Europas verallgemeinern. Das wäre in etwa so, sagt Lipphardt, als ob Forschende Proben in einem abgelegenen Schweizer Bergdorf nehmen und mit diesen Daten die gesamte Schweizer Bevölkerung repräsentieren würden.
Lehren für die Gegenwart
Damit sich solche Praktiken nicht wiederholen, brauche es Ausbildung, Sensibilisierung, Aufklärung und klare Verpflichtungen für Forschende, sagt Lipphardt. Auch wissenschaftliche Journale, Wissenschaftsjournalistinnen und Wissenschaftsjournalisten müssten Verantwortung übernehmen.
Keine einfachen Aufgaben. Doch wichtig, so Germann, denn: «Wir als Wissenschafterinnen und Wissenschaftler haben auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Dazu gehört ein Einstehen für Grundrechte und Demokratie.» Denn unethische Forschung kann – damals wie heute – zu Gewalt und Diskriminierung führen.