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20 Jahre Stammzellforschung Die Wunder lassen auf sich warten

Von Stammzelltherapien versprach sich die Medizin wahre Wunderdinge. Nicht alle Hoffnungen haben sich erfüllt.

Lesedauer: 10 Minuten

Embryonale Stammzellen sind echte Alleskönner. Ein Blick ins Mikroskop verrät: Die Zellen teilen sich unentwegt. Unter geeigneten Bedingungen verwandeln sie sich wie von Zauberhand. Nach wenigen Wochen sehen sie aus wie Muskelzellen, Hautzellen oder Nervenzellen. Ganz nach Wunsch.

Am 6. November 1998 ging die Nachricht von den «Wunderzellen» um die Welt. Sofort keimte die Hoffnung, dass neue Heilmethoden dank Stammzellen aus Embryonen möglich werden. Krankheiten wie Diabetes, Parkinson oder Rückenmarksverletzungen schienen plötzlich heilbar. Das Zeitalter der regenerativen Medizin hatte begonnen.

Kolorierte Stammzellen – durch das Mikroskop betrachtet.
Legende: Aus ihnen kann noch alles werden: kolorierte Stammzellen – durch das Mikroskop betrachtet. Getty Images / Science Photo Library – STEVE GSCHMEISSNER

Blinde können wieder sehen

«Ich bin so glücklich, dass ich mein Augenlicht zurück habe», freut sich der 86-jährige Douglas Waters: «Nach der Operation verbesserte sich meine Sehfähigkeit enorm», erklärte er im Frühjahr 2018 gegenüber Journalisten. Als einer von zwei Patienten nimmt Waters an einer kleinen Studie der Moorfield’s Augenklinik in London teil.

Douglas Waters leidet an einer Augenkrankheit namens AMD (Altersabhängige Makula-Degeneration). Menschen, die einmal gut sehen konnten, verlieren im Alter nach und nach ihr Augenlicht.

Ein Mann und eine Frau bei einer Augenuntersuchung.
Legende: Wieder sehen dank Stammzelltherapie? Augenspezialisten warnen vor übereilten Hoffnungen. Getty Images / Bill Oxford

Seine Ärzte haben Waters mit Zellen behandelt, im Labor gezüchtet aus embryonalen Stammzellen. Dazu haben sie die Zellen so verändert, dass sie zu Netzhautgewebe wurden. Diese Zellen haben sie dann bei einer Operation ins Auge ihrer Patienten gespritzt. Der Erfolg gibt ihnen anscheinend Recht.

Umstrittene Erfolgsmeldung

Der Augenspezialist Tim Krohne von der Universitätsklinik Bonn warnt jedoch vor übereilten Hoffnungen. Die beobachtete Verbesserung der Sehfähigkeit sei zunächst auf die begleitende Operation zurückzuführen und weniger auf die Stammzellen, erklärt er: «Bei der Operation wird Blut aus dem Auge entfernt, und dadurch können die Patienten schnell besser sehen. Die Stammzellen wirken erst langfristig.»

Eine behandschuhte Hand neben einer Pipette in einem Glas.
Legende: Trotz viel Stammzellforschung im Labor: Es fehlen die ganz grossen Erfolgsgeschichten. Getty Images / Andrew Brookes

Augenärztinnen warten unterdessen auf gesicherte Ergebnisse aus grösseren Studien. So hat das Pharmaunternehmen Astellas eine klinische Untersuchung mit 150 AMD-Patienten angekündigt. Einige sollen in der Studie embryonale Stammzellen erhalten. Tim Krohne erwartet seriöse Ergebnisse dieser und weiterer geplanter Untersuchungen nicht vor 2023.

Viele Patienten hoffen vergeblich

Zuvor gab es andere Behandlungsversuche mit embryonalen Stammzellen. 2010 sollten Querschnittgelähmte in den USA mit ihrer Hilfe wieder gehen lernen, so die Hoffnung.

Hände in Gummihandschuhen halten eine Maus und setzen ihr eine Spritze
Legende: Behandlung mit Stammzellen: Auch nach Tierversuchen kann die Hoffnung auf Heilung für Querschnittgelähmte noch nicht erfüllt werden. AFP PHOTO / ANNE-CHRISTINE POUJOULAT

Bereits 2011 mussten die Ärzte die Studie wieder abbrechen. In Tierversuchen hatten sich vereinzelt gutartige Zysten gebildet. Später konnte die Studie mit verbesserten Zellen erneut beginnen. Eindeutige Ergebnisse liegen acht Jahre später noch nicht vor.

Auch andere Krankheiten sollten mit embryonalen Stammzellen geheilt werden. Klinische Studien gegen die Parkinson-Krankheit und Herzerkrankungen wurden begonnen, führten aber nicht zu schnellen Ergebnissen. Immer wieder hiess es: zurück ins Labor. Auch 20 Jahre nach der Entdeckung embryonaler Stammzellen im Labor fehlen spektakuläre Heilerfolge.

Stammzellen aus dem Blut

Therapien mit körpereigenen Stammzellen sind hingegen in vielen Kliniken Routine. Immer wieder suchen Hilfsorganisationen Freiwillige zur Stammzellenspende. Allein in der Schweiz haben sich über 100'000 Spenderinnen gemeldet.

Wie Himbeeren in Popcornform – Blutstammzellen
Legende: Blutstammzellen: Sie kommen oft im Kampf gegen Leukämie zum Einsatz. Getty Images / Science Photo Library

Möglichst viele Freiwillige müssen sich testen lassen. Nur so erhalten die Patienten, die von den Zellen profitieren sollen, passende Stammzellen. Nicht passende Zellen würden vom Immunsystem der Empfängerinnen abgestossen.

Bei dieser weit verbreiteten Stammzellentherapie geht es um Blutstammzellen. Sie entstehen im Knochenmark und teilen sich dort. Dann entwickeln sie sich zu verschiedenen Formen von Blutzellen, wie den roten oder weissen Blutkörperchen. Bewährt haben sie sich bei einigen Formen von Krebs. Häufig kommen sie zur Bekämpfung von Leukämie zum Einsatz.

Eine Ärztin macht sich an einem Screen zu schaffen, im Vordergrund liegt ein Patient im Bett.
Legende: Sind in vielen Kliniken längst Routine: Therapien mit körpereigenen Stammzellen. Getty Images / Universal Images Group

Heilende Zellen auf Vorrat

Embryonale Stammzellen sollen viel mehr können als Blutstammzellen. Denn sie sind wandlungsfähiger und können verschiedene kranke Körpergewebe ersetzen. Im Labor haben sie ihre Fähigkeit vielfach unter Beweis gestellt.

In der Universitätsstadt Madison im US-Bundesstaat Wisconsin lagern die ersten embryonalen Stammzellen. In einem flachen Gebäude am Stadtrand stehen hinter gesicherten Türen ein Dutzend Gefriertanks. Bei minus 196 Grad lagern die wertvollen Stammzellen in flüssigem Stickstoff. Sie überdauern in Plastikröhrchen, nicht grösser als ein Kugelschreiber.

Ein Mann mit Stirnglatze in einem Labor.
Legende: James Thomson gelang als Erstem die Isolierung von menschlichen embryonalen Stammzellen. Getty Images / Chicago Tribune

Der Entwicklungsbiologe James Thomson und sein Team hatten die Zellen 1998 aus fünf Tage alten menschlichen Embryonen hergestellt. Dieses Embryonalstadium heisst Blastozyste.

Ein Embryo bildet dann eine kleine Kugel aus über hundert Zellen. Mit blossem Auge ist sie gerade eben zu sehen. In ihrem Innern geschützt befinden sich die wertvollen Stammzellen. Thomson hat sie als Erster aus der Blastozyste entnommen und in einer Zellkultur vermehrt.

Computersimulation einer Blastocyste.
Legende: Zellen im Embryonalstadium: Blastozyste heisst diese Kugel in der Fachsprache. Getty Images / Science Photo Library – SCIEPRO

Müssen Embryonen sterben für die Medizin?

Einmal gewonnene Stammzellen können sich immer weiter teilen. Fachleute sprechen von Stammzell-Linien. Mittlerweile gibt es Hunderte davon. Jedes Mal, wenn Ärztinnen oder Wissenschaftler eine solche Linie züchteten, mussten sie zunächst einen Embryo zerstören. Nur so gelangen sie an die Stammzellen im Innern der kleinen Zellkugel.

Stammzellenforscherinnen mussten sich deshalb von Anfang an ethische Fragen stellen lassen. Die evangelische Publizistin Antoinette Lüchinger schrieb 2002 in der Neuen Zürcher Zeitung: «Wenn Leben mutwillig gezeugt und zerstört wird, bringen wir damit den ganzen Schöpfungsplan durcheinander. Die Folgen und Konsequenzen sind verheerend.»

Stammzellen aus der Schweiz

Die zahlreich geäusserten Bedenken konnten die Forschung nicht aufhalten. Seit 2005 ist die Forschung mit embryonalen Stammzellen in der Schweiz zulässig.

Eine Frau im Labor schaut durch ein Miksoskop.
Legende: Die Biologin Marisa Jaconi brachte in der Schweiz die Diskussion um Forschung mit Stammzellen ins Rollen. Das führte 2005 zum Stammzellenforschungsgesetz. Keystone / GAETAN BALLY

Das Stammzellenforschungsgesetz erlaubt es, Stammzellen von menschlichen Embryonen zu gewinnen und mit diesen Zellen zu forschen. Das gilt ausschliesslich für Embryonen aus der Fortpflanzungsmedizin, die dort nicht mehr verwendet werden.

Vorausgegangen war diesem Gesetz eine Volksabstimmung, bei der sich mehr als 66 Prozent der Stimmenden für dieses Gesetz aussprachen.

Die kommerzielle Gewinnung und Verwendung von embryonalen Stammzellen blieb in der Schweiz und vielen anderen Ländern Europas grundsätzlich verboten.

Erste geklonte Stammzellen waren gefälscht

Forscher in Südkorea beschritten zur Gewinnung von Stammzellen einen neuen Weg: 2004 gelang es ihnen, durch Klonen neue Embryonen eigens für die Forschung herzustellen. Diesen geklonten Embryonen seien erfolgreich menschliche Stammzellen entnommen worden, hiess es in einem Forschungsbericht.

Das geschah nach der gleichen Methode wie bei Dolly, dem 1996 geklonten Schaf. Der Leiter der erfolgreichen Arbeitsgruppe wurde zunächst als «König des Klonens» gefeiert. Doch schon ein Jahr später häufte sich die Kritik an seinem Vorgehen.

Nahaufnahme eines Schafkopfes.
Legende: Methode Dolly: Das Klonschaf war das Vorbild für Stammzellenforscher in Südkorea. Getty Images / Colin McPherson

Zum einen hatte Hwang Woo Suk Mitarbeiterinnen genötigt, ihre Eizellen «freiwillig» zur Verfügung zu stellen. Mithilfe dieser Eizellen wurden Embryonen im Labor erzeugt. Später stellte sich heraus, dass einige Daten und Bilder dieser Zellen gefälscht waren.

Eine Untersuchungskommission kam zu dem Ergebnis: Zwar habe Hwang tatsächlich menschliche Embryonen geklont und kultiviert, er habe es aber nicht vermocht, daraus Stammzellen zu gewinnen. Der «König des Klonens» kam in Untersuchungshaft und verlor alle seine Ämter.

Körperzellen werden im Labor zu Stammzellen

Es dauerte nicht lange, da kamen 2006 neue Erfolgsmeldungen aus Ostasien. Dem japanischen Wissenschaftler Shinya Yamanaka war es gelungen, vielseitige Stammzellen herzustellen, ohne dabei Embryonen zu töten.

Ein Japaner im Anzug und mit Brille, lächelnd.
Legende: Ein Superstar unter den Stammzellforschern: Nobelpreisträger Shinya Yamanaka (Mitte) bei der Preisverleihung 2012 in Stockholm. Getty Images / Kyodo News

«Wir brauchen nur vier genetische Faktoren, und aus normalen Körperzellen entstehen Zellen, die mit embryonalen Stammzellen vergleichbar sind», versicherte der zurückhaltende Japaner.

Er hatte vier Gene gefunden, die aus einfachen Bindegewebszellen vielseitige Stammzellen machen. Zunächst machte er seine Experimente mit Mäusen, und später mit menschlichen Körperzellen. Hunderte Arbeitsgruppen konnten seine Ergebnisse bestätigen.

Damit waren Stammzellen in grosser Zahl vorhanden, ohne dass zu ihrer Herstellung Embryonen verbraucht wurden.

Neue Hoffnungsträger ohne Embryonen

Die Zellen erhielten den Namen: «Induzierte Pluripotente Stammzellen», kurz IPS. Im Labor konnten sie all das leisten, was zuvor nur Stammzellen aus Embryonen vollbrachten. Damit war die Zeit der embryonalen Stammzellen als Hoffnungsträger vorbei. Zur Bestätigung dieses Durchbruchs erhielt Yamanaka 2012 den Nobelpreis.

Silbertanks in einem Labor bei kaltem Licht.
Legende: Der Schatz von Kyoto: In diesen Gefriertanks lagern Stammzellen – in flüssigem Stickstoff. Center for iPS Cell Research and Application, Kyoto University

In seiner Heimatstadt Kyoto gründete er eine Biobank. In Dutzenden Gefriertanks lagern dort IPS-Zellen in flüssigem Stickstoff. Immer wieder werden sie vermehrt und stehen für die Forschung und auch für die Medizin zur Verfügung. Wie die embryonalen Stammzellen sollen sie zunächst gegen Augenkrankheiten wie die AMD (Altersabhängige Makula-Degeneration) getestet werden.

Jede Zelle kann umlernen

Eine Abkürzung auf dem Weg zur regenerativen Medizin beschritt 2010 der Stammzellenforscher Marius Wernig. An der Stanford-Universität schuf er aus Hautzellen funktionstüchtige Nervenzellen.

Das gelang ihm, ohne die Hautzellen zuvor in Stammzellen zu verwandeln. «Wir waren verblüfft, wie schnell das funktioniert», wunderte sich der Wissenschaftler.

Nervenzellen in Grün, partiell überlagert von Wolken in Pink.
Legende: Zauberwort Signalstoffe: Diese Nervenzellen könnten auch aus Hautzellen entstanden sein. Getty Images / Science Photo Library

Damit schien es möglich, einen beliebigen Zelltyp in jeden anderen umzuwandeln. Man braucht nur die richtigen Signalstoffe. Die zu finden, erwies sich dann als schwieriger als gedacht.

Erst im Frühjahr 2018 machten Wissenschaftler am Salk-Institut in Kalifornien den nächsten Schritt. Sie brachten Bindegewebszellen in der Wunde einer Maus dazu, sich zu Hautzellen zu entwickeln. Diese bildeten neue Haut und verschlossen die Wunde.

Ideen, aber keine Heilerfolge

Stammzellenforscherinnen haben seit 1998 viel dazugelernt. Nun suchen sie nach besseren Methoden, um die Zellen im Körper zu dirigieren. Doch während Wissenschaftler immer wieder jubeln, bleiben die Heilerfolge der Stammzellenmedizin bescheiden. Die Euphorie der frühen Jahre ist verflogen.

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