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Egal, ob beim Meditationstraining im Kloster oder beim Seminar für Führungskräfte: Achtsamkeit liegt im Trend – und das nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Forschung. Waren im Jahr 2000 nur rund 100 wissenschaftliche Artikel zu Achtsamkeit und Meditation erschienen, waren es 2015 schon über 1000. Nicht zuletzt diese Flut wissenschaftlicher Erkenntnisse zu positiven Auswirkung auf Körper, Geist und Gehirn haben dem gesellschaftlichen Trend rund um die Achtsamkeit Auftrieb gegeben.
Spektakuläre Ergebnisse – wenig Wissenschaftlichkeit
Einerseits zeigt die boomende neurowissenschaftliche Forschung auf, wo und wie der achtsame Umgang mit sich selbst und anderen im Gehirn zu Veränderungen führt. Auf der anderen Seite zeigen wissenschaftliche Studien, wie das auf Körper und Geist wirkt: von weniger Stress über mehr Konzentration und Gedächtnisleistung, bis hin zu verlangsamtem Altern.
Immer mehr Forscher stehen dem Hype aber skeptisch gegenüber. Sie kritisieren, dass die Erkenntnisse der Forschung übertrieben werden und dass Studien zum Thema Achtsamkeit wissenschaftlichen Standards oft nicht gerecht werden.
Der Psychologe Paul Grossman hat selbst viele Jahre am Universitätsspital Basel zu Auswirkungen von Achtsamkeitspraktiken auf Patienten geforscht. Den Rummel ums Thema hält er für problematisch. «Die Forschung im Bereich Wohlbefinden ist bescheiden, vor allem, wenn es um harte wissenschaftliche Erkenntnisse geht», so Grossman. Wissenschaftler seien daran interessiert, ihre positiven Resultate zu publizieren. Das führe leicht dazu, dass die tatsächlichen Effekte überschätzt würden.
«Ob der Hype wirklich gerechtfertigt ist, das ist sehr fraglich», so Grossman. Er betont aber auch, dass Achtsamkeit z. B. Patienten mit schweren Krankheiten dabei helfen könne, mit ihrer Lebenssituation besser umzugehen. Auch bei wiederkehrenden Depressionen hat sie einen immer besser abgestützten erwiesenen Nutzen.
Forschung steht erst am Anfang
Ein Grundproblem der Forschung im Bereich Achtsamkeit ergibt sich aber grundsätzlich daraus, dass erst seit wenigen Jahren intensiv am Thema geforscht wird. Viele erste Erkenntnisse sind noch nicht repliziert, das Wissen zu den Wirkungen könnte sich deshalb auch schnell wieder ändern. Die Forschung lernt mit jeder Studie hinzu, steckt aber noch immer in den Kinderschuhen.