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In der Schweiz gelten rund 250'000 Menschen als alkoholabhängig. Bis zu 1,75 Millionen trinken chronisch oder doch phasenweise zu viel. Sie zählen zu den sogenannten Risikokonsumenten: Sie trinken nicht so viel, dass sie besonders auffallen, sind noch sozial integriert, haben Job und Familie, ihre Gesundheit ist noch nicht spürbar angegriffen. Aber sie befinden sich in einer Grauzone zwischen Sucht und Gesundheit.
Wie viel Alkohol ist gesundheitlich vertretbar ?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt Männern, täglich nicht mehr als 30 Gramm Alkohol zu konsumieren. Frauen, die naturgemäss weniger vertragen, sollten maximal 20 Gramm zu sich nehmen.
Zur Orientierung: Drei Deziliter Bier enthalten zwölf Gramm Alkohol, ein Deziliter Wein enthält neun Gramm Alkohol.
Dies gilt jedoch als sehr grosszügige Obergrenze, denn andere Organisationen legen die Latte der Unbedenklichkeit wesentlich tiefer.
Reduktion statt Abstinenz
Bis vor ein paar Jahren war die Reduktion der Alkoholmenge in der Schweiz als therapeutischer Ansatz höchst umstritten. Während Jahrzehnten galt: einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker – jedes Glas führt unweigerlich zum Rückfall. Davon waren Alkoholtherapeuten überzeugt.
Doch seit einigen Jahren setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass mit Angeboten für reduziertes Trinken mehr Alkoholkranke erreicht werden, als mit der Drohung der Abstinenz. Ungefähr die Hälfte all derer, die etwas gegen ihren zu hohen Konsum machen wollen, wollen weiter trinken – aber in gesundem Mass.
Neues Wundermittel?
Fachleute abstinenzorientierter Einrichtungen gehen davon aus, dass nur gerade fünf Prozent ihrer Klienten in der Lage sind, kontrolliert zu trinken. Nun soll ein neues Medikament diese Zahl vergrössern. Zumindest verspricht das die Werbung für das Medikament Selincro.
Als erstes Medikament soll es bei Bedarf eingenommen werden. Das heisst: Verspürt ein Risikotrinker Lust auf Alkohol oder weiss, dass er vor einer verführerischen Situation steht, schluckt er eine Tablette und ein bis zwei Stunden später ist die Lust vergangen.
Nur ein Zusatz
Selincro greift direkt im Belohnungszentrum des Gehirns ein. Die Euphorie beim Alkoholkonsum bleibt aus und so besteht kein Anreiz mehr, weiter zu trinken. So weit die Theorie. In der Praxis muss sich erst noch bewähren, was die Werbung verspricht. Denn schon mehrmals kamen Medikamente auf den Markt, die Erfolg im Kampf gegen Alkoholismus versprachen. Immer mit den selben Resultaten: Bei einigen Menschen wirkt eine Substanz, bei anderen überhaupt nicht.
Fachleute aller Richtungen begrüssen Selincro als zusätzliche Variante im Kampf gegen Alkoholmissbrauch, warnen aber gleichzeitig vor übertriebenen Erwartungen. Was ebenfalls stets betont wird: Selincro soll nur zusammen mit einer Therapie verschrieben werden.