Schiefe Blicke, abfällige Kommentare, nutzlose Ratschläge – Adipöse erleben nicht nur im Alltag Diskriminierung, auch Ärzte haben Vorurteile. Mitunter leidet deshalb sogar die Behandlungsqualität.
Diskriminierung beim Arzt kennt auch Melanie Cangina. Sie ist mit einem BMI von 39.7 stark übergewichtig. «Ich war in der 14. Schwangerschaftswoche beim Kontrolluntersuch. Der Arzt machte das bei mir vaginal.» Da aber nur ein paar Wochen zuvor ein anderer Spezialist dieselbe Ultraschalluntersuchung durch die Bauchdecke gemacht hat, fragte sie nach: «Daraufhin schaute er mich an und stupste an meinen Bauch – an mein Fett – und sagte: ‹Wegen dem›.»
Eine harte Kost für Melanie Cangina. Wenn jemand sie im Alltag auf ihr Übergewicht anspricht, nimmt sie das einigermassen gefasst. «Wenn ich aber mit einem Problem oder einer Krankheit zum Arzt gehe und mir erhoffe, dass er mir hilft und der buttert mich runter, das verletzt mehr.»
Melanie Cangina wünscht sich von Ärzten, nicht nur auf das Gewicht reduziert zu werden. Das Gewicht vorne anzustellen und zu sagen, dass das Problem sich von allein löst, wenn sie abnimmt, damit macht es sich mancher Arzt zu einfach.
Kein Recht auf Heilung
Ähnliches hat auch schon Maya Meier erlebt. Sie ist mit einem BMI von 37.4 adipös. «Ich ging zum Orthopäden, weil ich Kniebeschwerden hatte.» Statt ihr zu helfen, rechnete er ihr den BMI vor und riet ihr, sich mehr zu bewegen. «Was kontraproduktiv war. Ich konnte mich ja gar nicht mehr bewegen, weil ich so schmerzen hatte», sagt Maya Meier.
Ernüchtert musste sie die Praxis ohne die erhoffte Behandlung verlassen. «Der Orthopäde nahm mich nicht ernst. Er nahm mir meine Würde», so Maya Meier. «Als ob ich kein Anrecht auf Heilung hätte.» Kein Wunder, traut sie sich nicht zum Arzt. Mit zu vielen Kilos auf der Hüfte ernst genommen zu werden, scheint nicht selbstverständlich zu sein.
Ekel, Unwissen, selbst Schuld
Für Bettina Isenschmid, Psychiaterin und Chefärztin an der Fachklinik für Essverhalten, Adipositas und Psyche im Spital Zofingen, sind solche Patientenberichte nichts Neues: «Das ist absolut an der Tagesordnung. Untersuchungen zeigen, dass mindestens ein Viertel der adipösen Patienten und Patientinnen stigmatisiert, ausgegrenzt und sogar im Spital und in der Arztpraxis nicht entsprechend ihren tatsächlichen Krankheiten behandelt werden.» Man lässt sie etwa länger auf einen Termin warten oder hält ihnen vor: selber schuld.
«Es ist auch tatsächlich so, dass Gesundheitsfachpersonen adipöse Personen weniger gerne anfassen», sagt Bettina Isenschmid. «Sich zum Teil sogar ekeln.»
Hinzu kommen Unsicherheiten: «Manche wissen gar nicht recht, wie eine Untersuchungstechnik bei einem grösseren Bauch aussehen könnte», weiss die Chefärztin. Adipöse Personen seien wegen der Körperfülle schwieriger zu untersuchen, das sei aber keine Entschuldigung für eine schlechtere Behandlung.
Ein Teufelskreis, denn die Stigmatisierung führt laut Bettina Isenschmid dazu, dass sich Betroffene zurückziehen. Doch nicht mehr zum Arzt zu gehen, kann schwerwiegende Folgen haben: Zum einen wäre es wichtig bei Übergewicht möglichst früh mit einer Therapie zu beginnen, zum anderen bleiben ernsthafte Beschwerden und gefährliche Krankheiten unentdeckt.
Bereits im Studium sensibilisieren
Wie also bringt man Ärztinnen und Ärzte dazu, ein besseres Verständnis für Menschen mit Adipositas zu entwickeln? Die Universität Zürich setzt bereits im Studium an: Dazu schlüpfen angehende Ärzte für einen Tag in die Haut von schwer Übergewichtigen. Das funktioniert mit einem «Fatsuit» – einem gepolsterten Anzug. Darunter gibt es ein 16 Kilogramm schweres Korsett.
Die beiden Medizinstudenten Michèle von Allmen und Marco Eberle liessen sich bei diesem Experiment von der Fernsehkamera begleiten. Auf einen Schlag sind sie so optisch über 40 Kilogramm schwerer. Ein neues Körpergefühl. «Es ist alles so unbeweglich. Man ist träge», sagt Marco Eberle. «Das Ganze drückt mich in den Boden.»
Das zusätzliche Gewicht wirkt sich sofort auf die Körperhaltung und den Gang aus. Nach einem kurzen Spaziergang durch die Stadt Zürich, brauchen die beiden eine Pause. «Normalerweise laufe ich das durchschnittliche Stadtzürcher Schritttempo», sagt Marco Eberle. «Jetzt schleiche ich durch die Gegend.» Auch Michèle von Allmen macht das Zusatzgewicht zu schaffen: «Die Haltung beim Laufen ist schlecht. Das geht richtig in den Rücken.»
Alltagssituationen neu erleben
Auch im Tram fühlt sich Marco Eberle sichtlich unwohl. Nicht nur, weil er nur zur Hälfte auf den Sitz passt. Was ihm am schwersten fällt: «Man fällt auf und sticht aus der Menge.» Die nächste Alltagssituation: In der Öffentlichkeit essen. Wie reagieren die Passanten? «Tatsächlich. Als wir aus dem McDonalds kamen, fiel mir eine Gruppe junger Frauen und Männer auf, die auffällig lange uns und unser Essen angeschaut haben», sagt Marco Eberle. «Das ist ein neues Erlebnis.»
Einmal in dieser Haut gesteckt zu haben, verändert einiges: «Ich darf mir nicht anmassen, zu verstehen oder zu sagen, was sie wirklich erleben. Aber ich kann es besser nachvollziehen und versuchen, das in meinem Patientenkontakt einfliessen zu lassen.» Neue Erkenntnisse, mit dem Ziel, auch dicke Patientientinnen und Patienten ohne Vorurteile zu behandeln.
Arztwechsel bringt nichts
Für Bettina Isenschmid, Psychiaterin ein erfolgreiches Rollenspiel: «Das bringt sehr viel. Das ist ein Stück Selbsterfahrung. Ärzte können sich kaum vorstellen, wie jemand leiden muss, weil er Übergewicht mit sich herumtragen muss. Und wenn man das für ein paar Stunden oder für einen Tag erlebt hat, denkt man schon ganz anders über solche Menschen.»
Doch was sollen nun Betroffene wie Melanie Cangina oder Maya Meier tun, wenn sie von einem Arzt oder einer Ärztin stigmatisiert werden? Den Arzt wechseln? «Leider bringt ein Hausarztwechsel meistens nicht viel», schreibt Mirjam Koch-Ritter. Sie ist Patientenvertreterin im Vorstand der Schweizerischen Adipositas Stiftung. Am besten, so Koch-Ritter, werden die Adipositaspatienten in Adipositaszentren verstanden und betreut.