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Autoimmunkrankheit MS Multiple Sklerose: Immer mehr Menschen sind betroffen

In der Schweiz sind 18'000 Personen von Multipler Sklerose betroffen, ein Fünftel mehr als 2016. Das zeigt die jüngste Erhebung des MS-Registers. Doch MS bedeutet heute nicht mehr zwingend ein Leben mit Einschränkungen.

Bei Nina Henz beginnt es mit einem entzündeten Sehnerv – sie sieht plötzlich alles verschwommen. Abklärungen im Universitätsspital Basel ergeben, dass dies kein erstmaliges Geschehen ist. In den Tests kommen Entzündungsherde zum Vorschein, die auf vorangegangene Schübe hindeuten; Schübe Multipler Sklerose.

Nina Henz hadert mit der Diagnose. Sie ist gerade 18 Jahre alt. «In diesem Alter befasst man sich nicht so gerne mit einer solchen Krankheit», sagt sie heute, sechs Jahre später.

MS – eine Erkrankung des Zentralen Nervensystems 

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Multiple Sklerose ist eine sogenannte Autoimmunerkrankung: Das Immunsystem richtet sich gegen den eigenen Körper. «MS hat gewisse erbliche Anteile, doch ausgelöst wird die Krankheit erst durch weitere Einflüsse, etwa aus der Umwelt», erklärt der Neurologe Andrew Chan vom Inselspital Bern. 

Unter dem Einfluss solcher Umweltfaktoren wandern bestimmte Immunzellen ins Gehirn ein und verursachen dort eine Entzündungsreaktion. Dabei ist es kein Virus, kein infektiöses Teilchen, das diese Entzündung verursacht, sondern es ist etwas Körpereigenes – ein «autoimmuner» Vorgang.

Das heisst: Entzündungszellen erkennen bestimmte Strukturen auf unseren Nervenzellen falsch, nehmen diese als feindlich wahr und greifen sie an; zum Beispiel die schützende Myelinschicht der Nervenfasern. Greifen sie diese an, wird die Kommunikation zwischen den Nervenzellen und somit die Informationsverarbeitung im Gehirn gestört.  

 «Die Myelinschicht ist bis zu einem gewissen Grad wiederherstellbar, wenn sie angegriffen wird.» Aber auch die Nervenzellen selbst geraten unter Beschuss, so Andrew Chan. «Und bei den Nervenzellen und -fasern selbst ist diese Regenerationsfähigkeit sehr begrenzt.» 

Solche zentralen Nervenschäden äussern sich in verschiedensten Symptomen: Kribbeln in Armen und Beinen; Sehstörungen, Müdigkeit, Erschöpfung. Die «typische» MS gibt es nicht – es ist die Krankheit mit den 1000 Gesichtern. 

 Wie lassen sich die steigenden Zahlen erklären?

«Auch in anderen Ländern steigt die Zahl der Diagnosen», sagt der Epidemiologe der Universität Zürich, Milo Puhan, der das nationale MS-Register leitet. 20 Prozent des Anstiegs, sagt Puhan, seien demografisch zu erklären. Etwa durch das Bevölkerungswachstum, oder weil die Leute länger leben.

Ausserdem seien 2017 die diagnostischen Kriterien für MS überarbeitet worden. Das habe dazu geführt, «dass die Krankheit über die Jahre immer früher diagnostiziert wird.» Dadurch seien die Fallzahlen sichtbar gestiegen.

Umweltfaktoren spielen in der Entwicklung der Krankheit vermutlich schon eine Rolle.
Autor: Milo Puhan Leiter des nationalen MS-Registers

Umweltfaktoren gelten als mögliche Auslöser von MS. Darunter etwa: eine ungesunde Ernährung; eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus; Vitamin-D-Mangel während der Schwangerschaft, was das Erkrankungsrisiko des Ungeborenen erhöht; oder auch eine übertriebene Hygiene im Kindesalter.

Allerdings seien solche Faktoren relativ konstant über die Zeit. Milo Puhan relativiert deshalb: «Umweltfaktoren spielen in der Entwicklung der Krankheit vermutlich schon eine Rolle. Doch der entscheidende Treiber für den Anstieg der MS sind sie nicht.» Das Ganze bleibt also rätselhaft und wird weiter erforscht.

Die erfreuliche Kehrseite: MS ist heute nicht mehr einfach Schicksal

Der Neurologe Andrew Chan, Chefarzt am Neurozentrum des Inselspitals Bern, arbeitet seit 20 Jahren mit MS-Betroffenen. In dieser Zeit habe sich für ihn das Krankheitsbild deutlich verändert. «Heutzutage würde ich sagen: Das ist eine chronische Erkrankung – und zweifellos ein Einschnitt ins Leben.  Aber sie ist in vielen Fällen kontrollierbar und auch gut kontrollierbar.»

Noch vor wenigen Jahrzehnten existierten für MS-Patientinnen und -Patienten überhaupt keine Therapieoptionen. Mitte der 1990er-Jahre gab es gerade mal ein Medikament, erzählt Andrew Chan.

«Mittlerweile haben wir jährlich ein bis zwei Neuzulassungen.» Es seien neue Wirkmechanismen und neue Klassen entdeckt worden – Antikörper zum Beispiel, die auf Zellebene bestimmte Zielstrukturen ganz gezielt ausschalten.

Ein (fast) normales Leben

Auch Nina Henz schluckt jeden Tag eine Tablette. Am Anfang allerdings wehrte sie sich gegen die Medikalisierung und nahm nichts. Bis sie nach einem halben Jahr den zweiten Schub hatte, diesmal in den Beinen. Ein paar Tage lang konnte sie nicht mehr gehen und sass im Rollstuhl. «Da erfuhr ich am eigenen Körper, wie sich MS anfühlt, wenn man nichts dagegen unternimmt.»

Nun ist sie seit 2019 schubfrei. Nina Henz steht mitten im Leben – ist zu 100 Prozent berufstätig, macht eine Weiterbildung, treibt Sport, geht gerne aus. Und: Sie trifft sich mit Gleichgesinnten. Das habe ihr am meisten geholfen. Bei Fragen sei die MS-Gesellschaft immer für sie da. «Es ist ein schönes Gefühl, wenn man jemanden im Rücken hat, der sich um einen kümmert und bei Bedarf hilft.»

Wissenschaftsmagazin 30.3.2024, 12:40 Uhr

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