Roland Kuhn galt als umtriebiger Arzt – im positiven wie im negativen Sinne. Denn zwischen 1950 und Mitte der 1970er-Jahre führte Kuhn in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen an über 1600 Menschen klinische Medikamententests durch – ohne deren Einwilligung. Der «Beobachter» machte den Fall publik. Der Kanton Thurgau will die Geschichte nun wissenschaftlich aufarbeiten.
Das bedarf einigem an Vorbereitung. 70 Meter Aktenordner und 800 Kisten randvoll mit Dokumenten haben die Angehörigen Roland Kuhns dem Kanton Thurgau übergeben. «Man muss leider sagen: Es war ein ziemliches Durcheinander in diesen Unterlagen. Professor Kuhn ist sehr alt geworden und man kann schon sagen, dass er es am Schluss nicht mehr so ganz im Griff hatte, was das Archiv anbelangt», sagt Staatsarchivar André Salathé. «Das Sortieren war deshalb so aufwändig, weil wir uns im heiklen Bereich der Psychopharmaka-Forschung keinen Fehler erlauben durften.»
Viele Betroffene leben noch
Kuhn starb 2005 im Alter von 93 Jahren. Die Mitarbeiter des Thurgauer Staatsarchivs hätten sich zuerst eingehend in die Materie vertieft. «Man muss eine Person oder ein Fachgebiet schon sehr gut kennen, bevor man es wagen kann, ein einzelnes Dossier oder Blatt an einen anderen Ort zu tun, wo es mutmasslich gar nicht hingehört», beschreibt Salathé die Sortierarbeit.
Die Vorwürfe gegen Roland Kuhn wiegen schwer. Der ehemalige Leiter der psychiatrischen Klinik Münsterlingen soll an ahnungslosen Patienten Medikamente getestet haben – unter fragwürdigen und wissenschaftlich zweifelhaften Bedingungen.
Laut «Beobachter» leiden die Betroffenen bis heute: Ein heute 57-jähriger Mann lebte als Kind im Kinderheim des Klosters Fischingen. Auch an ihm soll Kuhn Medikamente getestet haben. «Seit ich meine Akten aus Münsterlingen habe, kenne ich den Grund für meine Panikattacken. Sie haben mich wie eine Gans mit Medikamenten vollgestopft», klagt er.
Vorgehen war damals rechtens
Heute ist in Münsterlingen von der Aufregung nichts mehr zu spüren. In der Cafeteria der Klinik haben die Patienten heute jedoch eine klare Meinung zu den Vorfällen. Als «menschenverachtend» beschreibt ein Patient das Vorgehen Kuhns. «Er hätte das an sich selber machen sollen, nicht an anderen», kritisiert ein anderer. «Man muss als Patient schon darüber Bescheid wissen und sein Einverständnis geben», fordert ein Dritter.
Genau das hat Roland Kuhn aber unterlassen. Nur Pharmaindustrie, Ärzte und Behörden wussten von seinen Versuchen. Der Thurgauer Kantonsapotheker und Präsident der kantonalen Ethikkommission, Rainer Andenmatten, war mit Roland Kuhn befreundet und sieht in ihm ein Kind seiner Zeit.
Damals gab es noch keine Humanforschungsgesetze oder Ethikkommissionen.
«Sie müssen bedenken: In der Zeit, als Professor Kuhn seine klinischen Versuche mit Heilmitteln gemacht hat, gab es noch keine Humanforschungsgesetze oder Ethikkommissionen. Damals hat man die Studien ohne Studienprotokoll durchgeführt, ohne Patienteninformationen, ohne Einverständniserklärungen – das war der damalige Stand. Heute wäre das nicht mehr möglich.»
Patienteninformation erst seit 2002 Pflicht
Andenmatten beschreibt Kuhn als forschungsgläubigen Menschen, dem – wie vielen seiner Kollegen – Patienten einfach als Patienten galten, als «Krankengut», weniger Menschen als vielmehr Sache. Medikamententests an Ahnungslosen waren damals Usus und legal. «Heute steht der Patient mehr im Mittelpunkt. Die Beziehung zwischen Patient und forschendem Arzt ist wesentlich persönlicher und der Patient hat mehr Rechte», sagt Rainer Andenmatten.
Gesetzlich sind in der Schweiz erst seit 2002 Studien mit Heilmitteln ohne Information der Patienten verboten. Kuhn habe deswegen nie das Gefühl gehabt, mit seinen Versuchen etwas Unrechtes zu tun. «Roland Kuhn gilt ja als der pharmakologische Entdecker der trizyklischen Antidepressiva. Er hat mir damals von seiner Publikation, die sehr grosses Aufsehen in den wissenschaftlichen Kreisen erregt hat, voller Stolz ein persönliches signiertes Exemplar übergegeben», erinnert sich Rainer Andenmatten.
Forschung am Nachlass
Den Akten ist zu entnehmen, dass zwischen 1954 und 1957 auch 23 Personen während der Medikamententests gestorben sind. Diese Fälle sind nie untersucht worden. Kuhns Nachlass belegt auch, dass er an vielen der Patienten mehrere Substanzen gleichzeitig ausprobierte. Auch die Dosis war auffällig – sehr hoch, und wenn sie nicht gewirkt haben, hat man sie noch verdoppelt oder verdreifacht.
Nun sollen die Dossiers von Wissenschaftlern medizinischem, juristischem und pharmazeutischem Fachwissen ausgewertet werden. Der Kanton Thurgau stellt dafür 160'000 Franken zur Verfügung. Damit soll ein für allemal geklärt werden: Führten die Tests zu Todesfällen? Machte der Forschertrieb auch vor Schwangeren nicht halt? Und nicht zuletzt: Waren auch unwissende Kinder betroffen?