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Digitale Virenjäger Dem Coronavirus auf der Spur

Forscher der Uni Basel und der ETH Zürich verfolgen anhand von Gensequenzen den Weg des Virus rund um den Globus.

Hat sich jemand mit dem Coronavirus angesteckt, versucht man im Gespräch herauszufinden, wo und durch wen die Übertragung erfolgte. Je mehr Fälle auftauchen, desto schwieriger wird das aber – und ab einem gewissen Punkt machen Interviews keinen Sinn mehr.

Forscher in der Schweiz haben einen Weg gefunden, wie sie praktisch in Echtzeit Ansteckungsketten nachvollziehen können, ohne ein einziges Patientengespräch zu führen.

Gensequenzen verraten Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Richard Neher und sein Team am Biozentrum der Universität Basel haben die ganze Welt im Blick. Genauer: Endlose Zeichenfolgen von Buchstaben und Zahlen, die über ihre Monitore flimmern – das Erbgut des neuen Coronavirus.

Eben erst ist eine neue Sequenz aus China eingetroffen. «Wir analysieren nun, wo sich diese Sequenz von anderen Sequenzen unterscheidet, die wir schon haben», erklärt der Biophysiker.

Das Erbgut von rund 170 Coronavirus-Proben aus aller Welt haben die Forscher bereits miteinander verglichen. Dabei interessieren sie sich für kleinste Abweichungen im Gencode. Denn je länger das Virus in der Bevölkerung zirkuliert, desto mehr Mutationen treten im Erbgut auf.

Mutationen: Kleine Fehler beim Vervielfältigen

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Nachdem das Virus in seine Wirtzelle eingedrungen ist, nutzt es den zelleigenen Kopiermechanismus, um sich vervielfältigen und neu zusammensetzen zu lassen.

Bei diesen Kopiervorgängen können kleinste Ungenauigkeiten auftreten – sogenannte Mutationen, die sich in der Gensequenz nachweisen lassen.

Die minimal veränderten neuen Viren verlassen schliesslich die Körperzelle und können dann auch auf andere Menschen überspringen.

Anhand solcher Mutationen gelingt es dem Forscherteam, eine Art Stammbaum der gerade zirkulierenden neuen Coronaviren zu erstellen. Coronavirus-Proben, die im Erbgut dieselben Mutationen aufweisen, liegen auf dem gleichen Ast des Stammbaums.

Die Virus-Genome ermöglichen Einblicke, die sich aus Fallzahlen alleine nicht ergeben. «Wir sehen zum Beispiel jetzt in Italien, dass wir es nicht mit einem Ausbruch zu tun haben, sondern mit mindestens zwei Ausbrüchen, die unabhängige Ursprünge haben», erklärt Richard Neher.

Emma Hodcroft, Genomische Epidemiologin am Biozentrum der Uni Basel, ergänzt: «Dadurch erkennen wir Zusammenhänge, die wir sonst nicht sehen würden.»

So habe man beispielsweise im Januar eine Gensequenz von einem Patienten aus der Region Seattle erhalten und sie mit Proben aus der gleichen Region von Ende Februar verglichen. Ergebnis: Die Sequenzen waren sehr ähnlich, lagen also auf dem gleichen Ast des Stammbaums.

«Das legt nahe, dass das Coronavirus schon sechs Wochen lang unentdeckt in der Region Seattle zirkulierte.»

In Italien so ansteckend wie in Wuhan

Solche Daten nutzen auch Forscher wie Tanja Stadler. Die Biostatistikerin an der ETH Zürich kann daraus wichtige Kennzahlen errechnen. Unter anderem, an wie viele Personen ein erkrankter Mensch das Virus weitergibt.

Eine entscheidende Zahl.

Aktuell analysiert sie die Situation in Italien. Und kommt zu beunruhigenden Schlüssen: «In Wuhan, zu Beginn der Corona-Epidemie, lag die Ausbreitungsgeschwindigkeit zwischen zwei und drei.» Eine Person steckte im Schnitt also zwei bis drei zusätzliche Personen an. «Für Italien zeigen erste Resultate, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht kleiner ist.»

Seit dem Ausbruch in China hat sich das neue Coronavirus in immer mehr Länder ausgebreitet. Anhand der Daten aus den Gensequenzen können Neher und sein Team diese Ausbreitung quasi in Echtzeit nachvollziehen, selbst dann noch, wenn durch die grosse Anzahl der Fälle der Überblick verloren geht.

«Am Anfang eines Ausbruchs lassen sich die einzelnen Fälle noch zurückverfolgen, indem man die Reisehistorie und die Kontakte der infizierten Patienten nachzeichnet. Wenn aber immer mehr Fälle auftreten, ist das nicht mehr möglich», weiss Emma Hodcroft.

«Die Analyse des Genoms liefert uns dann wertvolle Informationen. Wir können Verbindungen herstellen, ohne zu wissen, wo sich die Betroffenen aufgehalten haben. Und wir können sehen, wenn sich die Virusgene von Patienten aus unterschiedlichen Ländern stark ähneln.»

Was ein Anzeichen wäre, dass sich die Personen am gleichen Ort angesteckt haben oder dass zumindest das Virus aus der gleichen Region stammt.

Ohne drastische Massnahmen nicht zu stoppen

Im Moment breitet sich das Virus ausserhalb von China immer weiter aus, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Richard Neher hat eine klare Vorstellung, wie sich die Lage weiterentwickeln wird: «Wir wissen aus China, dass es möglich ist, die Virusausbreitung einzudämmen. Aber China hat wirklich ausserordentlich drakonische Massnahmen implementiert. Dort wurden 500 Millionen Menschen unter verschiedene Formen von Quarantäne gestellt – und ohne vergleichbare Massnahmen gehe ich davon aus, dass sich das Virus in Europa weiter ausbreiten wird.»

Wenige Tage nach dem Drehtermin des Gesundheitsmagazins «Puls» in Nehers Büro hat die italienische Regierung die Sperrungen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wegen der Coronavirus-Krise auf das ganze Land ausgeweitet.

Puls, 09.03.2020, 21:05 Uhr

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