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Diskushernie – Trend zur Operation ungebrochen

In den letzten acht Jahren ist die Zahl der Bandscheibenoperationen um 70 Prozent gestiegen. Experten kritisieren: In den meisten Fällen würde eine konservative Behandlung mit Schmerzmitteln und Physiotherapie gleiche Resultate bringen.

Bandscheiben sind klassische Verschleissteile. Die gallertartigen Dämpfer mit dem Faserring, die eine Art Pufferfunktion zwischen den Wirbeln wahrnehmen, werden über die Jahre stark belastet. Der Verschleissprozess beginnt schon ab 20 Jahren.

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Die Bandscheiben können spröde werden und brechen. Teile des weichen Gewebes treten dann durch die Bruchstelle nach aussen, drücken auf den Nerv oder den Rückenmarkskanal und lösen heftige Schmerzen aus. Abhängig davon, welche Nervenwurzel betroffen ist, strahlen sie in die Arme oder Beine aus. Am häufigsten leidet die Lendenwirbelsäule, die im Alltag besonders strapaziert wird.

Doch nicht immer verursacht ein Bandscheibenvorfall Beschwerden. Es gibt auch stille Vorfälle ohne involvierte Nerven. Hier fällt die Diagnose «Diskushernie» meist zufällig im Rahmen einer anderen Untersuchung.

Mehr Männer als Frauen betroffen

Fünf Prozent aller Menschen sind mindestens einmal im Leben von einem Bandscheibenvorfall betroffen – damit erfüllt das Rückenleiden die Kriterien einer Volkskrankheit. Männer trifft es fast doppelt so häufig wie Frauen, und dies meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr.

Selbst wenn die Schmerzen im Moment kaum erträglich sind: Bei den meisten Betroffenen lassen sie nach drei bis sechs Wochen von alleine nach. Und in neun von zehn Fällen bilden sich die Bandscheibenvorwölbungen mit Hilfe von Physiotherapie und speziellen Übungen von selbst zurück.

Konservative Behandlung oft erfolgreich

Ohnehin sollte grundsätzlich versucht werden, eine Diskushernie zunächst konservativ zu behandeln. Heisst: Man setzt in der Therapie darauf, dass der Bandscheibenvorfall von alleine schrumpft. Bis dahin werden schmerz- und entzündungshemmende Medikamente eingesetzt, die bei sogenannten Infiltrationen direkt an die betroffene Stelle gespritzt werden können.

Schrumpft der Bandscheibenvorfall von alleine, liegt der eingeklemmte Nerv wieder frei. 85 Prozent der Patienten werden unter der konservativen Behandlung beschwerdefrei.

Ein chirurgischer Eingriff birgt hingegen immer Risiken – und die müssten nach Ansicht der Skeptiker nicht ohne Not eingegangen werden. Seit Jahren belegen Studien, dass es Operierten nach zwei Jahren weder besser noch schlechter geht als konservativ Behandelten. Narben und Verwachsungen an der Operationsstelle können aber zusätzliche Probleme bereiten. Gegen eine frühzeitige Operation sprechen auch die höheren Kosten einer Krankenhausbehandlung.

Indikatoren für eine Operation

Gemäss unverbindlichen internationalen Leitlinien kommt die Operation erst in Frage, wenn die konservativen Massnahmen allesamt nicht gefruchtet haben. Zudem gibt es klare Gründe für eine Bandscheibenoperation:

  • Lähmungserscheinungen
  • Probleme beim Wasserlassen
  • Extreme Schmerzen, die keine Bewegung mehr zulassen

Wann jedoch eine Lähmungserscheinung schwerwiegend ist und Schmerzen unerträglich werden, ist höchst subjektiv – letzten Endes entscheidet der persönliche Leidensdruck der Betroffenen, ob eine Operation in Frage kommt oder (noch) nicht.

Eine deutsche Studie hat kürzlich ergeben, dass lediglich fünf Prozent der operierten Patienten tatsächlich solche Notfälle waren und dass fast ein Drittel der Patienten, die nicht als Notfälle eingestuft wurden, sich hatten operieren lassen, ohne vorher eine konservative Behandlung zu versuchen. Eine Erklärung dafür liefert die Studie nicht.

«Das kann man operieren»

Trotz Richtlinien und im Endeffekt genauso wirksamer konservativer Therapie steigen die Operationszahlen weiter und weiter. Im Jahr 2014 zählte man in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik bereits 14‘859 chirurgische Eingriffe – rund 70 Prozent mehr als noch 2007.

Auch Stefan Schären, Präsident der Schweizer Gesellschaft für Spinale Chirurgie, erstaunen die Zahlen: «Es sollte erst operiert werden, wenn die konservative Methode ausgeschöpft ist und nur bei korrekter Indikation. Der Patient muss klar wissen, welchen Gewinn er von einer Operation erwarten kann. Auch muss er über die Alternativen und die möglichen langfristigen Folgen einer Operation aufgeklärt sein.»

Über die Gründe der Zunahme kann nur spekuliert werden, da es dazu hierzulande keine wissenschaftlichen Untersuchungen gibt. Man kann aber davon ausgehen, dass auch in der Schweiz nicht nur Notfälle gemäss den Leitlinien operiert werden. Es gibt aber noch andere Vermutungen: «Aus medizinischer Sicht spielt sicher auch die bessere Diagnostik eine Rolle. Heutzutage sind schnellere und bessere Befunde möglich», meint Dr. Nils H. Ulrich, Facharzt für Neurochirurgie an der Schulthess Klinik in Zürich. «Die Patienten müssen kaum warten, um ein MRI zu bekommen. Dann bleibt weniger Zeit um abzuwarten, bis die Schmerzen rückläufig sind. Zusätzlich ist der soziale Druck gestiegen: Um im Arbeitsumfeld nicht lange auszufallen, möchten Patienten schneller wieder mobil und schmerzfrei sein. Da kann die Entscheidung für die Operation von Vorteil sein.»

Zu vermuten ist auch, dass die Fallpauschalen einen Einfluss auf die Operationszahlen haben könnten. Operationen sind lukrativ. Stefan Schären, Präsident der Schweizer Gesellschaft für Spinale Chirurgie meint dazu: «Der Anstieg der Operationszahlen ist multifaktoriell. Die Einführung des DRG (Diagnosis Related Group, deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen, Red.) als Fallmengen-basiertes Vergütungssystem wirkt dem Trend zumindest nicht entgegen.»

Gründe für den OP-Boom

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Oft erfolgen Operationen auch dann, wenn der Patient schon lange konservativ behandelt wurde, aber keine Besserung in Sicht ist. Wenn sich dann der Chirurg das MRI ansieht und das Bild die Schmerzen bestätigt, folgt häufig der Satz: «Das kann man operieren.» Für einen monatelang leidgeplagten Patienten ist dies die Aussicht für eine mögliche Besserung, für den Chirurgen lediglich der Ausdruck für einen grundsätzlich legitimen Eingriff. «Das kann man operieren» heisst aber längst nicht «das muss man operieren» oder «danach wird es Ihnen ganz sicher besser gehen.»

Das Ziel der Operation sollte mit dem Patienten vorher klar besprochen werden. Prinzipiell sollte sie nur erfolgen, wenn ein klarer Erfolg absehbar ist und nicht einfach, weil sie möglich ist.

Oft drängen Patienten zu einer Operation, weil die konservative Behandlung mehr Geduld und Zeit braucht. Man fällt zeitweise am Arbeitsplatz aus und muss die Rückenübungen sehr diszipliniert durchziehen. Auch dass die starken Schmerzen, die ins Bein oder in den Arm ziehen, durch eine Operation schnell verschwinden, ist verlockend: Man ist schneller wieder mobil und arbeitsfähig. Das Alter spielt dabei fast keine Rolle mehr: Auch ältere Patienten wollen heutzutage operiert werden, um mobil zu bleiben.

Eine entscheidende Weichenstellung erfolgt auch beim Hausarzt: Schickt er seinen Patienten direkt zum Chirurgen, wird eine Operation schneller zur Option. Verweist er Patienten an einen Rheumatologen, wird der stets versuchen, zunächst konservativ zu behandeln.

Vervierfachung der Reoperationen nach Versteifung

Bemerkenswert ist auch die steigende Zahl der Versteifungsoperationen. Versteifungen der Wirbelsäule werden gemacht, wenn …

  • … ein grosser Teil der Bandscheibenflüssigkeit ausgetreten ist und die Bandscheibe so flach ist, dass sich die Wirbel reiben.
  • … während der normalen Bandscheiben-Operation ein Wirbel abgeschliffen werden muss, damit der Chirurg die Stelle erreichen kann, wo die Bandscheibenflüssigkeit auf die Nerven drückt.
  • … Wirbel instabil sind und sich verschieben.

Lange wurden Versteifungen als problemlose letzte Lösung bei Bandscheibenproblemen angepriesen. Mittlerweile hat sich aber gezeigt, dass sie durchaus unerwünschte Nebeneffekte haben können: Die benachbarten Abschnitte werden durch die Stabilisierung eines Wirbelsäulensegmentes stärker belastet, was mit der Zeit zu neuen Beschwerden führen kann – nicht nur an der Bandscheibe. Das Problem verlagert sich also einfach. Neueste Zahlen zeigen auch, dass Versteifungen häufig nachoperiert werden müssen.

«Versteifung bei älteren Menschen oft die einzige Möglichkeit»

Auch aktuelle Techniken und Operationsmöglichkeiten haben einen Einfluss auf die Zahl der Eingriffe: «Als ich in die Schweiz gekommen bin, habe ich zunächst versucht, nur die ‹Kleine Wirbelsäulenchirurgie› zu praktizieren, also ausschliesslich Bandscheibenvorfälle und Wirbelkanalverengungen ohne Versteifungen zu operieren», erinnert sich Dr. Karsten Müller, Neurochirurg am Kantonsspital Glarus. «Nach kurzer Zeit habe ich dann aber mehr und mehr Patienten gesehen, denen nur mit einer zusätzlichen Stabilisierung nachhaltig geholfen werden kann.» Gleichzeitig wurden auch für die Wirbelsäulenverschraubungen minimalinvasive, gewebeschonende Verfahren entwickelt. Diese würden die Eingriffe heute viel weniger belastend für die Patienten machen.

«Dennoch muss jeder operative Eingriff gut begründet sein, und dabei gilt für mich der Grundsatz, soviel Beweglichkeit wie möglich zu erhalten», hält Müller fest. «Heute führe ich Versteifungen regelmässig durch, und mache das auch ganz gern, weil die Technik eleganter geworden ist. Ich operiere aber vor allem mehr ältere Menschen als früher, weil auch sie fit bleiben wollen – und da gibt es häufig die Situation, dass die Wirbelsäule durch die Alterung nicht mehr stabil genug ist.»

Das zunehmende Alter seiner Patienten sieht der Chirurg ohnehin als wichtigen Grund für die wachsende Zahl von Versteifungen: «Mit dem höheren Lebensalter der Patienten, die mir zur Operation zugewiesen werden, nimmt die Häufigkeit von Wirbelgleiten und Wirbelsäulenverkrümmungen dramatisch zu.» Da habe eine Entlastung des Nervengewebes ohne Stabilisierung oftmals keine ausreichende Erfolgsaussicht. Müller betont: «Nach meiner festen Überzeugung ist die Versteifungsoperation an der Wirbelsäule des älteren Menschen in vielen Fällen die einzige Möglichkeit, die Lebensqualität entscheidend zu verbessern.»

Handeln statt nur behandeln lassen

  • Im Grundsatz ist der Patient stets gut beraten, erst alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen.
  • Wer sich eine Operation überlegt, sollte mit dem Chirurgen gut besprechen, welchen Gewinn die Operation tatsächlich bringen wird und welches die langfristigen Folgen des Eingriffs sein können. Ist kein klarer Gewinn zu erwarten, wird besser weiterhin konservativ behandelt.
  • Eine Zweit- oder Drittmeinung und jene eines Rheumatologen helfen, den vorgeschlagenen Behandlungsweg einzuschätzen und zu relativieren. Geduld haben ist kurzfristig zwar unbequem, langfristig aber nachhaltiger.
  • Wer erste Symptome eines Bandscheibenvorfalls bemerkt, sollte möglichst früh mit der konservativen Behandlung beginnen, um eine Verschlechterung zu verhindern.

Die Bandscheiben eines Diskushernie-Patienten werden wohl immer seine Schwachstelle bleiben. Verhaltensveränderungen zum Beispiel beim Heben oder Tragen sind angezeigt. Viel Bewegung hilft ebenso wie Stressabbau – auch nach einer Operation.

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