Zum Inhalt springen

Findelkinder: Ein schweres Los Ein schwieriger Start ins Leben

Als Baby ausgesetzt zu werden, hinterlässt tiefe Narben. Die Not der Mutter muss gross sein, das dem Kind zuzumuten.

«Stefan Unbekannt» steht auf seinem ersten Krankenkassenausweis, der in seinem Fotobuch eingeklebt ist. Heute heisst er Stefan Hofmann.

Stefan war nur wenige Tage alt, als zwei Studenten ihn am 31. Oktober 1991 im Treppenhaus einer Berner Buchhandlung fanden. Im Laden hielt die frühere Bundesrätin Elisabeth Kopp gerade eine Lesung. Das Neugeborene lag in einem Tragekorb, daneben einen Schoppen, ein Thermosbehälter mit warmer Milch, eine Reisetasche mit Kleidern und Windeln, ein blauweisser Teddybär und ein Plüsch-Uhu.

Findelkind mit vielen Geschwistern

Die Polizei brachte das Findelkind ins Berner Kinderspital, wo ihm eine Kinderkrankenschwester den Namen Stefan gab.

Zwei Wochen später nahmen ihn Terry und Paul Hofmann bei sich auf. Sie führen eine Heilpädagogische Lebensgemeinschaft, zur Familie gehörten leibliche Kinder und Pflegekinder.

Traumatische erste Tage

Der Bruch, den Stefan in seinen ersten Lebenswochen erlebt hat, sass tief. Anfänglich hatte er jede Nacht Panikanfälle. Die ersten eineinhalb Jahre musste Pflegemutter Terry Hofmann bis zu 30 Mal pro Nacht nach ihm schauen. Als die Behörden Stefan nach zwei Jahren zur Adoption freigaben, konnten die Hofmanns dem bereits traumatisierten Jungen keinen weiteren Bruch zumuten, also adoptierten sie ihn.

Dass er ein Findelkind ist, hat Stefan immer gewusst. Seine spezielle Geschichte wollte er immer und immer wieder als Gutenachtgeschichte hören. Zusammen mit seinen Adoptiveltern hat Stefan sich oft ausgemalt, weshalb seine Mutter ihn wohl ausgesetzt hat. Heute sagt er: «Die Frau war sehr wahrscheinlich überfordert mit der Situation, wollte mich schützen oder wollte einfach das Beste für mich.»

«Alles wäre zusammengebrochen»

Sein eigenes Kind nach der Geburt aussetzen oder weggeben – wie gross muss die Not einer Mutter dafür sein? Eine Frau, die diese Situation selbst erlebt hat, ist bereit anonym darüber zu sprechen: «Als ich bemerkt habe, dass ich schwanger bin, war ich schockiert und hilflos. Ich wusste nicht, wie ich das alleine stemmen soll. Auch das Finanzielle: So ein Kind wird nicht nur mit Liebe gross.»

Sie erinnert sich an die Busfahrt dorthin: «Ich sass da und dachte mir: ‹Wenn die wüssten, dass ich jetzt auf dem Weg bin, mein Kind in ein Babyfenster zu legen.›.» Und fügt hinzu: «Ich hätte am liebsten losgeweint. Hätte mich jemand angesprochen, wäre alles zusammengebrochen.» Eigentlich wollte sie das Kind abgeben und komplett damit abschliessen. Das tat sie dann doch nicht, zu gross die plötzlich erwachte Sorge ums Kind. Sie holte es zurück.

Babyfenster

Box aufklappen Box zuklappen

Wenn eine Mutter ihr Baby ins Babyfenster legt, macht sie sich nicht strafbar. Sie kann ihr Kind zudem bis zum Vollzug der Adoption zurückverlangen. Es gibt in der Schweiz in acht Spitälern Babyfenster. Jene in Einsiedeln, Davos, Olten, Basel, Bern und Bellinzona werden von der Stiftung für Mutter und Kind finanziert. Die Stiftung, die gegen Abtreibungen eintritt, finanziert auch die Folgekosten, die durch eine Kindsabgabe entstehen. Es gibt noch je ein Babyfenster in Sitten und Zürich , das direkt von den Spitälern betrieben wird.

Mit Pseudonym zur Geburt

Eine heimliche Schwangerschaft, eine versteckte Geburt und ein zurückgelassenes Baby. Für Frauen, die ihr Kind nicht behalten wollen, gibt es eine Alternative: die sogenannte vertrauliche Geburt.

Die Möglichkeit einer vertraulichen Geburt gibt es heute gemäss einer Umfrage des Dachverbands Sexuelle Gesundheit Schweiz in 18 Kantonen in jeweils mindestens einem Spital. Doch nur sechs Spitäler informieren auf ihren Webseiten darüber. «Die vertrauliche Geburt ist noch viel zu wenig bekannt – und zwar sowohl bei Fachpersonen in den Spitälern und Beratungsstellen, als auch in der Öffentlichkeit», sagt Daniela Enzler von Sexuelle Gesundheit Schweiz.

Die Grundidee: Eine Frau muss am Empfang ihre Personalien nicht angeben und erhält von der zuständigen Fachperson direkt ein Pseudonym, einen Tarnnamen. Den richtigen Namen erfahren nur ganz wenige Personen im Spital sowie - vertraulich - die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden und das Zivilstandesamt.

Der grosse Vorteil der vertraulichen Geburt: «Die Frauen sind nicht alleine. Sie werden durch die ganze Schwangerschaft beraten und betreut. Sie müssen auch nicht irgendwo alleine gebären. Das ist auch für das Kind viel besser», sagt Claudia Maurer, Fachfrau sexuelle Gesundheit im Spitalzentrum Biel.

In Biel kann die Mutter gleich nach der Geburt nach Hause gehen oder sie erhält ein Einzelzimmer, abseits anderer Mütter. Ob sie das Kind sehen will, bleibt ihr überlassen. Auch danach können Frauen psychologisch betreut werden. «Sie müssen nicht mit Schuldgefühlen leben», sagt Claudia Maurer. «Das ist uns sehr wichtig.»

Das Kind bleibt erst einmal im Spital und wird – wenn es sich die Mutter nicht anders überlegt - zur Adoption freigegeben. Im Alter von 18 Jahren erhält es das Recht, den Namen der Mutter zu erfahren.

Beratung zur vertraulichen Geburt

Box aufklappen Box zuklappen

Unter diesem Link finden Sie Beratungsstellen zur zur vertraulichen Geburt. Sie sind verpflichtet, Sie vertraulich, ergebnisoffen und kostenlos zu beraten.

Leibliche Mutter weiterhin unbekannt

Stefan Hofmann hingegen weiss bis heute nicht, wer seine leiblichen Eltern sind. Mittlerweile sucht er nicht mehr nach ihnen, auch wenn ihn sein schwieriger Start ins Leben natürlich bis heute begleitet. Mit Gesprächstherapie hat er seine Vergangenheit aber aufgearbeitet.

«Ich glaube, du musst einfach tief graben, in das Ich, in das Innere, in die Abgründe, in die Schmerzen. Und vor dort aus, muss man es von unten nach oben heilen», sagt Stefan Hofmann. «Es ist möglich. Hart, aber sehr schön.»

Anonyme Geburt

Box aufklappen Box zuklappen

Eine anonyme Geburt, bei welcher die Mutter ärztliche Begleitung erhält, aber ihre Personalien nicht angibt, ist in der Schweiz rechtlich nicht erlaubt. Das Grundrecht des Kindes, zu wissen woher es stammt, überwiegt. In anderen Ländern gibt es die anonyme Geburt.

Meistgelesene Artikel