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Gefährliche Impfpause Kehrt wegen Corona die Kinderlähmung zurück?

Intensive Impfprogramme haben die Kinderlähmung weltweit fast ausgerottet. Wegen Covid-19 wurden diese vielerorts gestoppt. Es droht ein Comeback der Krankheit. Nun starten die ersten Impfaktionen wieder.

In vielen Ländern Afrikas und Asiens wurden wegen der Covid-19-Pandemie Impfprogramme gestoppt. Insgesamt blieben etwa 80 Millionen Kinder deswegen ungeimpft, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO gewarnt hat.

Verbreitung von Haus zu Haus verhindern

Stark betroffen seien Impfkampagnen gegen die Kinderlähmung, sagt Hamid Jafari. Er ist Direktor des Polio-Eradikations-Programms der WHO in einer Region, die das östliche Mittelmeer, Ostafrika und Westasien umfasst.

«Unsere Impfteams gehen normalerweise von Haus zu Haus, um die Kinder zu impfen», sagt Hamid Jafari. So sollen möglichst viele Kinder erreicht werden.

Aber dies wurde gestoppt, nachdem die WHO im März den Ausbruch von Covid-19 zur Pandemie erklärt hatte – aus Sorge, dass infiziertes Impfpersonal das neue Coronavirus Sars-CoV-2 in Dörfern und Städten hätte verbreiten können, erklärt Jafari.

Negativtrend in Afghanistan und Pakistan

Besonders kritisch ist die Lage in Afghanistan und Pakistan. Es sind die einzigen Länder weltweit, in denen noch Polio-Viren zirkulieren. 2019 lähmte das Virus dort 174 Kinder. Im Jahr davor waren es nur 33 gewesen.

Zwei Frauen tragen eine blaue Kühlbox (vermutlich mit einer Polioimpfung darin) zu einer Haustüre. Beide Frauen tragen eine Burka.
Legende: Es wird befürchtet, dass das Gesundheitspersonal neben dem Polio-Impfstoff auch das Sars-Cov-2-Virus mittragen könnte. Keystone/Jalil Rezayee

Mitschuld an der Zunahme sind die radikal-islamischen Taliban. Sie verwehren in beiden Ländern Impfteams den Zugang zu den Gebieten, in denen sie die Macht haben. In den letzten sieben bis acht Jahren wurden sogar mehrere Dutzend Impfhelferinnen – meist sind es Frauen – bei ihrer Arbeit ermordet.

Nun fürchtet Hamid Jafari von der WHO, dass der negative Trend in Afghanistan und Pakistan wegen der Impfunterbrüche durch Covid-19 verstärkt wird.

Anzeichen dafür gibt es: Seit Anfang Jahr hat das Polio-Virus in Afghanistan deutlich mehr Kinder gelähmt als in derselben Periode letztes Jahr. Auch in Pakistan liegt die Zahl leicht höher. Es traten auch Fälle in Gegenden auf, die zuvor Polio-frei waren.

Die Folgen des Impfunterbruchs

Der Impfunterbruch wegen Covid-19 bedroht aber auch andere ärmere Länder: Das Virus könnte durch Migranten aus Afghanistan oder Pakistan in andere Staaten verschleppt werden – und könnte dort jene Kleinkinder anstecken, die noch nicht geimpft wurden.

Zudem gibt es ein weiteres Problem. Der Polio-Impfstoff, der in vielen ärmeren Ländern verwendet wird, besteht aus einem lebenden, abgeschwächten Virus. In ganz seltenen Fällen können diese Impfviren ihre Kraft zurückgewinnen und sich unter ungeimpften Kindern verbreiten und diese lähmen.

Letztes Jahr wurden in 17 Ländern 367 Kinder durch solche Impfviren gelähmt, die meisten in Afrika. Solche Impfausbrüche werden nicht zu den Fällen gezählt, die durch das «normale» Polio-Virus ausgelöst werden, aber sie sind für Kinder trotzdem eine Gefahr - und der Impfstopp könnte die Impfausbrüche fördern. Tatsächlich hat sich die Zahl der betroffenen Kinder dieses Jahr im Vergleich zur selben Periode 2019 bereits verdreifacht.

Zögerlicher Impfstart

Vor kurzem haben einige Länder wieder gegen Polio zu impfen begonnen: Pakistan, Afghanistan, Angola und Burkina Faso. Die WHO hat Schutzmassnahmen entwickelt, damit die Impfteams das Coronavirus nicht verbreiten.

Die Impfhelferinnen tragen Masken und es wird regelmässig geprüft, dass sie keine Covid-19-Symptome haben. Auch dürfen sie die Kinder, die sie impfen, nicht berühren. Dies ist möglich, weil der Impfstoff den Kindern in den Mund geträufelt wird.

Zwei Frauen bringen einem Mann vor seiner Haustüre Informationsbroschüren. Die Frauen tragen ein hellblaues Kopftuch, was die Farbe von UNICEF symbolisiert.
Legende: Anfang Juli in Jalalabad, Afghanistan: Zwei Polio-Aufklärerinnen der UNICEF informieren die Bevölkerung in einer Kampagne auch über das Coronavirus. Keystone/Ghulamhullah Habibi

Ob dieser zögerliche Impfstart ausreicht, um eine Ausbreitung von Polio zu verhindern, ist offen. Das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF warnt: Trotz aller Bemühungen könnten in abgelegenen Gebieten Afghanistans bis zu einer Million Kinder durch die Impfteams nicht erreicht werden.

Lähmung aus dem Nichts – Die Geschichte von Polio

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Arzt impft ein Kind mit einer Spritze in den Oberarm. Weitere Kinder warten in einer Schlange.
Legende: Keystone/Hans Krebs

Die Kinderlähmung trat im Juni 1916 mit einem Paukenschlag auf die Weltbühne. Völlig überraschend brach in der Metropole New York eine Epidemie aus: 25'000 Kinder wurden gelähmt, 9000 starben.

Isoliertes Phänomen

Zuvor war die Krankheit der Öffentlichkeit und den allermeisten Ärzten unbekannt. Aus nicht eindeutig geklärten Gründen hatte es bereits in den Jahrzehnten davor in den USA und Teilen Europas langsam zunehmend grössere Ausbrüche gegeben. Diese waren aber trotzdem so klein und isoliert, dass nur einige wenige Forscher darauf aufmerksam wurden.

Grosse Epidemie mit Ähnlichkeit zur Corona-Pandemie

Die grosse Epidemie in New York löste Reaktionen aus, die gespenstisch an heute erinnern, an unseren Umgang mit dem Coronavirus. Zeitgenossen beklagten eine Informationsflut und Desinformation.

Die Nachbargemeinden New Yorks schlossen ihre Grenzen für Kinder aus der Metropole, um ihre eigenen Kinder zu schützen. Nutzlose Medikamente wurden angepriesen und es wurde darüber gestritten, ob die Schulen öffnen sollten oder nicht.

Impfstoff brachte Rettung

Nach 1916 suchte das Virus auch Europa und die Schweiz regelmässig in der Sommerhitze heim. Rettung brachten erst zwei Impfstoffe, die in den 1950er Jahren entwickelt wurden. Dank ihnen verschwand das Virus in wenigen Jahren aus den Industrieländern.

Ungeduldige Geldgeber

Schafft das Virus ein Comeback, wäre das für die WHO fatal. Eine internationale Allianz von Organisationen unter ihrer Leitung wollte das Virus ursprünglich bis 2000 global ausrotten.

Die Allianz liegt also weit hinter dem Zeitplan und ihre Geldgeber – Länder wie Deutschland, Kanada und die Gates-Stiftung – , die jedes Jahr viele Millionen in den Kampf stecken, werden ungeduldig.

Würde die Polio-Ausrottungskampagne aus Geldmangel reduziert oder gar abgebrochen, sagt Jamid Hafari von der WHO, könnte sich das Virus von Pakistan und Afghanistan aus in viele Länder verbreiten und jährlich Hunderttausende von Kindern lähmen.

Lichtblick für Afghanistan und Pakistan

Einen Lichtblick sieht der pensionierte Schweizer Arzt und Polio-Bekämpfer Urs Herzog. Er ist Mitglied bei der Organisation Rotary, die Teil der Allianz gegen Polio ist und für die Ausrottungskampagne in 40 Jahren rund 2 Milliarden Franken gesammelt hat. Herzog hat enge Kontakte zu Impfteams in Pakistan und Afghanistan.

Er sagt: «Die Taliban haben ihre Gebiete für Gesundheitspersonal geöffnet, damit sie dort das Coronavirus bekämpfen können.» Viele dieser Einsatzkräfte arbeiten auch in Polio-Impfteams mit. So keime nun die Hoffnung, dass die Taliban auch die Polio-Impfung zulassen werden. Es wäre ein kleiner Schritt nach vorn.

Sendung: Podcast, Kopf voran, 12.8.2020, 17:45 Uhr.

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