Zum Inhalt springen

Geschädigt nach Behandlung Die Beweislast liegt beim Patienten

Wer nach dem Spital-Austritt kränker ist als vorher hat schlechte Karten: Die Hürden für einen Schadenersatz sind hoch.

Bei Claudia Schrepfer, 54 Jahre alt, geschah die Panne während einer Hüftoperation. «Man muss so viel unterschreiben. Für Infekte, für verletzte Nerven, und und und», sagt Claudia Schrepfer. «Ich habe aber nicht für eine Raspel unterschrieben, deren Griff abbricht und im Hüftknochen steckenbleibt.»

Vor anderthalb Jahren erhielt Claudia Schrepfer wegen Arthrosebeschwerden ein neues Hüftgelenk. Doch das Instrument brach ab und blieb bündig im angebohrten Knochen stecken. Es musste herausoperiert werden, was den ganzen Eingriff lang und kompliziert machte. Die Folgen: Ihr Oberschenkelmuskel schrumpfte. Trotz unzähliger Therapiestunden, die Kraft ist bis jetzt weg. Heute kommt sie nur noch mit Mühe die Treppe hoch, schleppt das rechte Bein nach.

«Die Ärzte sichern sich ab»

Auch Silvia Schneider, 52 Jahre alt, verlässt das Spital kränker, als sie es betreten hat: «Ich kann nichts dafür, ich bin die Unschuldige in dem Ganzen. Ich habe den Schmerz, den ganzen Schreibkram und finanzielle Einbussen. Das ist verrückt», sagt Silvia Schneider.

Sie erlitt letzten Januar bei einer Krampfader-Verödung einen irreversiblen Nervenschaden – ein extrem seltener Ausnahmefall, beschrieben auf Seite drei der Einverständnis-Erklärung. «Man nimmt sich kaum die Zeit jeden Satz durchzulesen. Unterschreiben muss man am Schluss trotzdem. Wenn nicht, wird man nicht operiert. Die Ärzte sichern sich ab – auf die hinterste und letzte Problematik.»

Nun ist die Pflegefachfrau seit Monaten arbeitsunfähig. Sie hat zermürbende Schmerzen, kann allein kaum aus der Wohnung und ist auf die Unterstützung des privaten Umfelds angewiesen. Ihr Sohn und ihre Tochter helfen im Haushalt. Hinzu kommt die finanzielle Belastung: Der Lohnausfall, der Selbstbehalt und die stetigen Vorschüsse für Medikamente.

Der Patient muss den Fehler nachweisen

Um mögliche Ansprüche klären zu lassen, wandten sich beide geschädigte Frauen an die Patientenstelle Aargau-Solothurn. Die zwei unabhängigen Anlaufstellen Stiftung Schweizerische Patientenorganisation SPO und Schweizerische Patientenstellen kümmern sich bereits seit 40 Jahren um solche Anliegen.

40 Jahre unabhängige Patientenberatung – die Geschichte

Box aufklappen Box zuklappen

Eine 35-jährige Frau erwachte nach einer Gebärmutterentfernung nicht mehr aus der Narkose. Dieser Fall machte vor rund 40 Jahren Schlagzeilen: Wegen mehreren Ärztefehlern. Der Ehemann stand in jahrelangen Auseinandersetzungen alleine Ärzten, Spitälern, Behörden und Versicherungen gegenüber. Der Fall brachte das Fass zum überlaufen, daraufhin wurde die erste Patientenberatungsstelle der Schweiz gegründet.

«Krank und nicht mehr ausgeliefert», lautete das Motto der Vereins-Gründerinnen Charlotte Häni: Die neue, unabhängige, Anlaufstelle verschaffte Patientinnen und Patienten, die sich mit ihrem Schicksal allein gelassen fühlten, Unterstützung und Gehör.

Denn lange galt: Der Arzt ordnet an, Patientinnen und Patienten lassen sich ohne Widerrede behandeln. Im patriarchalen Gefüge gab es keine Kritik und keine Rückfragen.

Bereits in der 1960er-Jahre-Bewegung, begann sich der Zeitgeist zu wandeln. Autoritäten und Hierarchien wurden in Frage gestellt und auch das Bewusstsein für Patientenrechte stieg. Patientinnen und Patienten reichten vermehrt Klagen ein und ab den 1980er Jahren fällte das Bundesgericht wegweisende Urteile zu den Patientenrechten, etwa zur Aufklärungs- und Dokumentationspflicht.

Mittlerweile gibt es viele Rechte für Patientinnen und Patienten. Herausfordernd bleibt die Umsetzung, zeigt der Beratungs-Alltag. Die Anlaufstellen kümmern sich um eine breite Palette: Behandlungsfehler, Kommunikationsprobleme, Konflikte, Kassenwechsel, Versicherungsleistungen, IV, Krankenkasse. Im Jubiläumsjahr veranstaltet die Patientenstelle Kurzberatungstage.

Für Silvia Schneider und Claudia Schrepfer stehen die Chancen auf Schadenersatz schlecht. Anspruch darauf haben Schweizer Patientinnen und Patienten nur, wenn die Sorgfaltspflicht verletzt wird. Sprich: Wenn ein Fehler gemacht wurde und wenn dieser Fehler die Ursache der gesundheitlichen Probleme ist. Belegen muss dies die Patientenseite, mit umfassenden Krankenakten und ärztlichen Gutachten, die den Verdacht erhärten.

Im Gutachten von Silvia Schneider steht, dass thermische Schädigungen von Nerven bei sehr schlanken Patienten leider vorkommen können. Auch der Gutachter, den Claudia Schrepfer beizog, relativiert: Er ist der Ansicht, dass Instrumente wie die Raspel brechen können. Daher sei es kaum möglich, dem Hersteller einen Materialfehler oder dem Chirurgen einen Anwendungsfehler nachweisen zu können.

Selbst Mieter sind bessergestellt

Eine unbefriedigende Schweizer Rechtslage, kritisiert David Schwappach von der Stiftung für Patientensicherheit. Für ihn besonders problematisch: die starke Fehlerorientierung. «Es muss immer ein Fehler nachgewiesen werden, damit die Patienten zu ihrem Recht kommen können. Das ist für die Patienten, aber auch für die beteiligten Ärzte sehr schwierig.»

«Der Patient ist im Verfahren die strukturell schwächere Partei», sagt auch Bettina Umhang, Anwältin, die sich auf Schadenersatzfälle spezialisiert hat. «Arbeitnehmer und Mieter zum Beispiel, haben Vorteile im Verfahren – aber den Patienten hat man irgendwie vergessen.»

Auch wenn die Patientengruppe riesig ist, sie hat laut Franziska Sprecher den Nachteil, dass sie in den Anliegen sehr heterogen ist. «Auf der anderen Seite stehen Ärzte, Versicherer und Pharmaunternehmen, das sind alles Experten, die gut organisiert sind. Sie sind finanzstark und schlagkräftig in der Politik.» Die Erfahrung von Patientenrechtsspezialistin Franziska Sprecher zeigt: «Patienten stehen wirklich schlecht da.»

Vorbildliche Nachbarländer – Kantönligeist in der Schweiz

Beispielhafte Modelle gibt es im Ausland: Frankreich, Belgien, Finnland und Österreich haben etwa öffentliche Entschädigungsfonds eingerichtet. Gelder daraus erhalten die Opfer schwerer Komplikationen, wie etwa Patienten mit einer gravierenden Spitalinfektion.

Bereits 2015 bestätigte der Bericht «Patientenrechte» an den Bundesrat Handlungsbedarf. Darin steht: «Es ist anerkannt, dass diese Systeme der fehlerorientierten Haftung Nachteile bergen. Es besteht deshalb auch nach Expertenauffassung Anlass, in diesem Bereich Verbesserungsmöglichkeiten zu prüfen.» Passiert ist aber bis anhin nichts Konkretes.

Hier finde ich Unterstützung:

Box aufklappen Box zuklappen

Patientinnen und Patienten können sich an unterschiedliche Stellen wenden, wenn sie Fragen haben, sich beschweren möchten, oder Rechtsbeistand brauchen.

  • Unabhängige Beratungsstellen: Für verhältnismässig günstige Tarife bieten unabhängige Anlaufstellen Beratung rund um vermutete Schadenersatz-Ansprüche, Rechnungen, Policen, etc. - Mitglieder haben Vorteile. In der Schweiz gibt es zwei Organisationen: Stiftung Schweizerische Patientenorganisation SPO ; Schweizerische Patientenstellen .
  • Beratung für bestimmte Patientengruppen gibt es bei Organisationen wie: Pro Mente Sana (für psychisch Kranke), Behindertenforum, Selbsthilfeorganisation Procap (Menschen mit Behinderungen); Alzheimer-Vereinigung, Parkinson-Gesellschaft, etc.
  • Beschwerdestellen: Manche Konflikte lassen sich mit dem Arzt / dem Spital direkt klären. Wer sich beschweren möchte, kann sich an diverse Stellen richten, je nach Klinik und Kanton: Beschwerdestellen an Spitälern, Ombudsstellen der Ärztegesellschaften & Kantone, kantonale Aufsichtsbehörden etc. Diese Stellen haben in der Regel eine schlichtende Funktion.
  • Rechtsberatungsstelle UP – für Unfallopfer und Patienten: Zwei spezialisierte Anwälte des gemeinnützigen Vereins bieten für 100 Franken eine 45-minütige Erstberatung für juristische Fragen an.
  • Gutachterstelle FMH: Die aussergerichtliche Gutachterstelle der Ärztegesellschaft FMH vermittelt, wenn die geforderten Bedingungen erfüllt sind, ein ärztliches Gutachten durch eine Fachgesellschaft. Die Patientenseite muss die nötigen Unterlagen liefern, Preis: 1000 Franken.
  • Rechtsschutzversicherung: Eine gute Rechtsschutzversicherung bietet Hilfe bei der Abklärung, Vermittlung von Fachstellen und Anwälten, und besonders auch: Kostenübernahme! Bei Abschluss auf spezialisierten Anbieter achten. Ohne Rechtsschutzversicherung sind Schadenersatzverfahren schwer zu führen.

Weshalb? «Die Rechtsetzungskompetenz im Gesundheitswesen liegt primär bei den Kantonen», sagt Franziska Sprecher. «Es ist nicht der Bund, der schlampt, es müssen alle Beteiligten des Gesundheitswesens vorwärts machen wollen.»

Es gibt zwar immer mal wieder Vorstösse von Parlamentariern. «Doch Vorstösse für die Sicherheit von Patienten und für die Qualitätssicherung, die finden in der Regel keine Mehrheit», sagt Erika Ziltener Präsidentin vom Dachverband Schweizerischer Patientenstellen.

Die Prognose von Franziska Sprecher ist verhalten: «Ich glaube, auf die Schnelle wird sich nichts ändern.» Geschädigte wie Claudia Schrepfer und Silvia Schneider können aufgrund der heutigen Rechtslage oft nur daraufhin arbeiten, dass die Haftpflichtversicherung des Arztes oder Spitals in einen Vergleich einwilligt und mehr oder weniger freiwillig eine Entschädigung bezahlt.

Meistgelesene Artikel