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Gesundheit Benzodiazepine – Sucht auf Rezept

Benzodiazepine, im Volksmund als Beruhigungs- und Schlafmittel bekannt, sollten wegen ihres Suchtpotenzials und ihrer Nebenwirkungen nur kurz eingenommen werden. Doch die Praxis sieht anders aus.

«Als ich das erste Mal ein Beruhigungsmittel nahm, war es extrem schön. Endlich fühlte ich mich frei und entspannt», erzählt Ursula M. Die damals 33-Jährige litt seit langem unter Angst- und Panikattacken, begleitet von massiven Brechanfällen. Als sie in einer akuten Phase zum Hausarzt ging, verschrieb ihr dieser ein Beruhigungsmittel, ein Benzodiazepin.

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Sie hatte keine Ahnung, was er ihr gab, die Wirkung aber überzeugte sie: «Ich nahm die Tablette ein und eine Viertelstunde später war ich ein anderer Mensch. Die ganze Spannung und die Angst waren weg. Ich konnte wieder denken. Es war einfach wunderbar.»

Von da nahm sie regelmässig Benzodiazepine. Ohne hätte sie den Alltag nicht mehr bewältigen können, sagt sie heute. Eine Tablette reichte bald nicht mehr, um wieder in diesen entspannten Zustand zu kommen. Sukzessive wurden es mehr, am Schluss brauchte sie jeden Tag bis zu fünf Tabletten – 17 Jahre lang.

Populäres Valium

Valium ist das wohl bekannteste Benzodiazepin. Es wurde in den 1960er-Jahren vom Chemiker Leo Sternbach entdeckt, der für Roche zuerst Librium und danach Valium entwickelte. Er schrieb damit Medizingeschichte: Erstmals stand ein Beruhigungsmittel zur Verfügung, das bei Angst und Unruhe half, später wurde es auch als Mittel bei Schlafstörungen entdeckt.

Valium war eine Zeit lang das meist verschriebene Medikament überhaupt. In den Arztpraxen wurde es bedenkenlos abgegeben und die Patientinnen und Patienten waren überzeugt von seiner Wirkung. Erst Jahre später zeigte sich: Benzodiazepine können sehr schnell süchtig machen und verursachen vor allem bei älteren Menschen teils schwerwiegende Nebenwirkungen. Von einer langfristigen Verschreibung wurde von da an dringend abgeraten.

«Bedenkliche Abgabe»

Die Valium-Hymne

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Plattencover der LP «Aftermath» und der Single-Auskopplung «Mother's little helper»
Legende: discogs.com

Die Rolling Stones haben dem Medikament Valium mit «Mother's Little Helper» ein musikalisches Denkmal gesetzt. Der ironisch gefärbte Song erschien 1966 auf dem Album «Aftermath» und schaffte es als Single bis auf Rang 8 der Billboard-Charts. «Mother's little helper» ist seither eine geläufige Umschreibung für Tranquilizer aller Art.

Helfer mit Suchtpotenzial

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Benzodiazepine wirken angst- und krampflösend, beruhigend und schlaffördernd. Im Notfall sind sie hilfreich, doch die Suchtgefahr ist schon nach wenigen Wochen erheblich. In der Schweiz bekannte Benzodiazepine sind Temesta, Valium, Seresta, Dormicum, Lexotanil und das ähnlich wirkende Mittel Stilnox

Auch heute noch gelten Benzodiazepine als sehr gute Mittel in Notsituationen. Sie wirken rasch bei Angst und Panik, innerer Unruhe oder akuten Schlafstörungen. Doch nach wie vor gilt: Sie sollten möglichst nur im Notfall und nur über kurze Zeit abgegeben werden.

Die Praxis ist jedoch eine andere. Im Jahr 2014 bezogen gemäss einem «10vor10» vorliegenden Helsana-Bericht 800'000 Menschen Benzodiazepine und Z-Medikamente, fast die Hälfte von ihnen mehr als eine Packung. Vier Millionen Packungen wurden verkauft. «Bedenklich», meint Oliver Reich, Leiter Gesundheitswissenschaften bei Helsana, denn die hohe Anzahl deute auf eine Dauermedikation hin: «Obwohl man seit Jahren weiss, dass man eine Dauertherapie vermeiden sollte, findet es trotzdem statt. Das finde ich besorgniserregend.»

Ältere Menschen neigen zu Nebenwirkungen

Vor allem ältere Leute bekommen häufig Benzodiazepine, über 20 Prozent der über 75-Jährigen nimmt regelmässig Schlaf- oder Beruhigungspillen ein. Dabei sollte gerade in dieser Altersgruppe mehr Zurückhaltung herrschen: Ältere Menschen reagieren viel sensibler auf die Substanzen und leiden vier Mal häufiger unter Nebenwirkungen wie junge Patienten.

Gefürchtete Nebenwirkungen sind Stürze und demenz-ähnliche Zustände. «Heute haben viele Betagte Unmengen von Medikamenten. Oft fehlt der Überblick und es kommt zu Wechselwirkungen», sagt Andrea Hornstein, Leiterin der Spitex St.Gallen Ost. Kommen Benzodiazepine hinzu, wird das Ganze verstärkt: «Wir erleben im Alltag Stürze von Patienten, die auf Benzodiazepine zurückzuführen sind.» Dabei gibt es Alternativen: Antidepressiva, die vor allem auch bei Schlafstörungen gut wirken, doch die schrecken viele ab aus Furcht vor einer Stigmatisierung.

Andrea Hornstein kritisiert den heute «zu lockeren Umgang. Bei Jüngeren schaut man viel differenzierter, bei älteren heisst es schnell: Sie sind altersmüde oder haben eine leichte Depression. Und sind sie einmal verordnet, bleiben sie es meist für den Rest des Lebens.»

Schwieriger Entzug

Das Dilemma bei der Abgabe von Benzodiazepinen ist wohl, dass sie hilfreich bei Angst und Panik und Schlafstörungen sein können dank ihrer raschen Wirkung. Ursula M. nahm 17 Jahre lang Benzodiazepine ein, und erst nach einem Zusammenbruch wagte sie einen Entzug.

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Das sei hart gewesen, sagt sie: Zittern, Panikattacken, Verwirrtheit, Unruhe und Schlafstörungen, «Benzodiazepine machten bei mir auch Gedächtnisstörungen. Das merkte ich erst, als ich sie nicht mehr einnahm.» Heute sei sie wieder mehr sich selber, lebe nicht mehr in einem Dauernebel. Sie hat zwar wieder mehr Ängste, aber macht heute eine Therapie, «endlich eine, die zu mir passt.»

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